Donnerstag, 15. Oktober 2015

Gedankenströme II

Stille.

Endlos.

Und alles verschwimmt.


Den Schmerz nicht mehr ertragend, unfähig mit ihm umzugehen und den weiten Ranken seiner maliziösen Auswirkungen nicht mehr entkommend;
- hechelnd von einer Ablenkung zur nächsten.

Bloß nicht nachdenken.
Nicht denken.
Nicht erinnern.
Nicht träumen.

Am liebsten jede einzelne Zelle des Gehirns abschalten, vielleicht nur noch vegetieren, nichts weiter als auf die Funktionsweise des Metabolismus beschränkt, in irgendeinen Käfig gesperrt werden und geistlos auf das bedeutungslose Ende warten.
Ein Mittelweg, um denen gerecht zu werden, die einem noch nicht vollends egal geworden sind, und der Abscheu gegenüber allem, was existiert, insbesondere einem selbst.

Herausforderungen, an denen man einst so vielversprechend zu wachsen schien, zerbrechen zu einem Haufen zerschlagener Illusionen; erkennend, dass man jedes Mal ein weiteres Stück mehr kaputt gegangen ist.
Und kaum regt sich das Gemüt zu einem winzigen Funken Hoffnung und Enthusiasmus, wird dieser doch sogleich von dem zähen, dicken - mal grauen, mal schwarzen - Nebel erstickt und man bleibt am Boden kleben, auf dem man zuvor gnadenlos zerschellte.

Alles ist so bedeutungslos.

Was nützt noch Wehklagen, Gejammere und läppisches Rumheulen? Was nützen all die Anstrengungen, die man unternommen hat, um die Schatten, die sich den eigenen selbstzerstörischen Klauen entrissen haben, zu bändigen?

Nichts hilft.
Nichts wird besser.
Egal, was man auch tut.
Es wird alles bloß schlimmer.

Den Mund unlängst dusselig geredet, müde und motivationslos noch irgendetwas - selbst banalstes - auszusprechen, oder zu tun, lustlos auch nur einen einzigen weiteren sinnlosen Atemzug im Sumpf der dekadenten Lethargie zu tätigen, bekommt man vielleicht noch hier und da Mut zugesprochen, oder eine helfende Hand gereicht. Doch man selbst kann dafür nicht mehr erübrigen als mit Mühe zusammengekratzte - womöglich geheuchelte - Worte der Dankbarkeit und Wertschätzung - allerdings mit dem Vorbehalt der Ablehnung; denn zu oft hat man genau das schon erlebt und versucht. Wie ein Wahnsinniger, der in irrtümlicher Erwartung eines anderen Ergebnisses, stets ein und das selbe immer und immer und immer wieder tut. Aber irgendwann - wenn man sich bereits in einem Zustand befindent, der kaum noch als "Depression" bezeichnet werden kann, da man darüber längst hinaus ist und sich in einem emotionalen Brachland die Beine gebrochen hat, in dem weit und breit nichts und niemand ist, was auch nur im Geringsten eine realistische Möglichkeit auf Besserung versprechen kann - hat man einen Punkt erreicht, ab dem auch jener Wahnsinn nicht mehr nützt, um einem den Antrieb und das Gefühl für Leben zu geben. Man sackt ausgelaugt, erschöpft, sämtlicher Energien beraubt zusammen und verkommt zu etwas, das nicht mehr ist als ein lebloser Klumpen Fleisch.

Recht früh geraten auch jene erst so freundlichen und hilfsbereiten Menschen an ihre Grenzen und verharren aufgrund Ahnungslosigkeit in Machtlosigkeit, sodass sie einen nur noch mitleidig ansehen können; als ob man von Mitleid nicht schon mehr als genug hätte, da man viel zu viel Zeit auch damit vergeudet hatte in erbärmlichen Selbstmitleid zu versinken. Doch es ist nicht ihr Fehler, sie können nichts dafür.

So verstummen auch ihre Stimmen.

Und das einzige noch hörbare, ist der chaotische Sturm der Gedanken - wenn er denn da ist. Denn ansonsten herrscht auch im Geiste nur eine unsagbar breite und stickige Leere.

Die Wahrnehmung trübt sich, als würde man von einem depersonalisierenden Schleier umhüllt werden und schleichend den Bezug zur Realität verlieren, sodass man sich letztlich in einer eigentümlichen Zwischenwelt verirrt, welche einen vergessen lässt, wer man ist und wer all die Gesichter um einen herum sind. Ebenso verliert man sein Gefühl für sich und seine Umwelt, als würde man die biologischen Signalleitungen kappen. 
Alles relativiert sich, alles wird uninteressant, unwichtig, unbedeutend, egal.
Man ist präsent, aber doch nicht da. Körper und Geist getrennt. Das eine nur noch ein entseeltes Tier, das andere scheinbar ausgelöscht, doch verloren in endloser Finsternis.
Und das schlimmste dabei ist: Es ist einem egal, dass einem alles egal wird.

Ohnehin darin bestrebt nicht mehr zu denken und nicht mehr zu sein; ein passiver Beobachter seiner selbst. 
Stumm und taub.

Auch die Menschen, die man einst liebte und die einem wichtig waren, verlieren daher an Bedeutung. Der Bezug zu ihnen schwindet, man schweigt nur noch und findet nach einiger Zeit lediglich den Staub, zu dem die gemeinsamen Chroniken zerbröselt sind. Und das oft sogar bloß einseitig.
Denn man zieht sich zurück, sperrt sich ein in seinem ersehnten Käfig, meidet den Kontakt und versucht bewusst, oder unbewusst mit den Schatten zu verschmelzen. Und wenn sich doch eine kurze Interaktion ergibt, flüchtet man, versucht ein baldiges Ende dieser zu erwirken. Denn wenn nicht die Lethargie der Grund dafür ist, so ist es Ekel. Man ist angewidert von jenen - wenn nicht allen - Menschen und letztlich von sich selbst, da sie einen an die Dinge erinnern, die man vergessen will. Sie sind Teil dessen, weshalb man nicht mehr denken will. Obgleich so manchen von ihnen keine direkte Verantwortung und damit Schuld zulasten gelegt werden kann, sind sie dennoch unfreiwillig damit verknüpft.

Manchmal verfängt man sich dann wieder in "Was wäre wenn...?"-Fragen und bereut viele seiner Entscheidungen vielleicht, da es irgendwo noch einen kümmerlichen Rest dessen gibt, wer man einst war, und dies Grund genug dafür ist, sich bessere Zustände zu erträumen.
Doch dann sind da wieder das Angewidertsein und die Lethargie.

Letztenendes macht es sowieso keinen Unterschied.
Wir enden, wie wir begonnen haben: bedeutungslos.

Was bleibt einem dann also noch anderes Übrig, als das jämmerliche und bedeutungslose Ende herbeizusehnen?

Nichts mehr sehen.
Nichts mehr hören.
Nichts mehr fühlen.
Nicht mehr denken.
Nicht mehr sein.

Und dennoch macht man weiter, zwingt sich durch den nächsten sinnlosen Atemzug, würgt das nötigste an Nahrung herunter, um nicht zu krepieren, da der kümmerliche Rest es ist, welcher einem noch irgendwo einen Grund gibt weiterzumachen. Aber nicht aus allzu persönlichem Wunsch, sondern um diejenigen, die einem bis dahin noch nicht egal geworden sind, nicht so unverzeihbar zu verletzen.

Man findet sich damit ab in eine Welt abzudriften, welche nicht die ist, in welcher die anderen leben, und führt nur eine Farce auf, um zu suggerieren, dass alles schon irgendwie in Ordnung sei.
Vielleicht kann man sich darauf festfahren zu einer seelenlosen Arbeitsmaschine zu mutieren. Nur noch funktionieren, wie es erwünscht, oder erwartet wird, doch ohne jeden Elan, ohne mit seinem Geist und seinem Herz wirklich dabei zu sein. Hauptsache man springt nicht vor den nächsten einfahrenden Zug.
Seelisch tot, aber biologisch am leben.
Ein Seelenzombie im Alltag. Das Hirn, den Verstand, die Persönlichkeit und den Charakter irgendwo tief unter der Dunkelheit unauffindbar begraben.

Irgendwann hat der Mist eh ein Ende.


~ Lupus Terre


Donnerstag, 6. August 2015

Neue Rosen

Die Seele gefangen in fremder Haut
Schmerz versteckt vom lächelnden Gesicht
Die Sehnsucht der Angst ins Antlitz schaut
Wille gefriert Schicht um Schicht

Klanglos, farblos die Unsichtbare schneidet
das Fleisch - verfault, vermodert, verdirbt
Der neue Tag das Gefühl ausweidet
Still und heimlich das Menschlein stirbt

Das Messer - Werkzeug morbider Kunst
- malt rote Blumen in die Glieder
Alte Narben erneut verhunzt
Wehmut wimmert Trauerlieder

Qualvoll sprengt das innere Geschrei
die letzten Fundamente, das letzte Fort
Zerdrückend schwer, doch nie vorbei
Verbrennen Sakramente mit einem Wort

Krank umklammert, nach Erlösung verzehrt
- bekam ein neues Herz geschenkt
Wie ein Fremdkörper abgestoßen und abgewehrt
- von Reue durchtränkt

Jede Nacht Leib und Liebe schänden
Keine Freiheit, keine Flucht
Fingernägel in zerkratzten Wänden
Verbleibend in Agonie und Todsucht

Nur Gesichter im Gedächtnis stehen
wie Schemen gebadet in Neurosen
vergeblich nach Vergebung flehen
Einsam wachsen jene Kirchhofrosen


~ Lupus Terre



Sonntag, 19. Juli 2015

Sphären der Vergänglichkeit: Trostflut

Blut. Tränen. Regen. Und das unablässige Peitschen des Meeres. Das waren Dinge, die er ignorierte, denn für ihn zählte nur eines. Seine Frau war tot.
"Valëza, nein! Nein, nein, nein, nein, nein.... Wieso nur?", wimmerte er leise vor sich hin, an der Leiche seiner Frau kniend. Seine Welt war für ihn zusammengebrochen. Und er weinte Tränen auf sie herab. Salzige Tränen des Verlustes, die der Regen nicht hinfortspülen konnte.
Das Blut seiner Frau quellte aus ihrer Wunde. Längst hatte es auf dem hölzernen und verwahrlosten Boden des Steges eine Pfütze gebildet, die vom Regen verdünnt auch hinab in das dunkle Meerwasser tropfte.
So viele Jahre tiefer Liebe, Freundschaft und Leidenschaft von den Fluten der Zeit hinfortgespült.
Korab, ihr Ehemann, drückte ihren Kopf fest an sich, betete zu allen Göttern in allen Himmeln und auf allen Erden, dass dies nur ein Alptraum sei aus dem er erwachen würde. Er flehte mit jeder Faser seines Körpers in die Zeit zurückreisen zu können, um den Mord an seiner Frau zu verhindern. Der mittvierzige Mann wollte es nicht wahrhaben. Immer und immer wieder flüsterte, sprach und schrie er in Gedanken, Sie ist tot! Sie ist tot, sie ist tot! SIE IST TOT!!! Oh mein Gott, sie ist tot..., und verstand es dennoch nicht. Vor einem Augenblick war sie noch da, schenkte ihm eines dieser Lächeln, weswegen er sich unter anderem vor über 20 Jahren gleich in sie verguckt hatte. Sie standen dieses Jahr wieder auf diesem Steg am Meer, an dem es damals zu ihrem ersten Kuss kam, standen im Regen, doch das machte ihnen nichts. Sie waren glücklich, so viele Jahre lang waren sie glücklich miteinander. Und im nächsten Augenblick donnerte aus dem Nichts ein Instrument des Todes hervor. Eine Pistolenkugel durchbohrte ihre Brust und plötzlich - kaum einen Lidschlag danach - tränkte Blut die weiße Bluse seiner geliebten Frau Valëza in einem frischen und satten Rot. Die Sekunden, in denen sie dann zu Boden fiel, vergingen für Korab wie Minuten. Aus allen Wolken gerissen, geschockt und mit diesem grausamen Ereignis überrascht, verlor er seine Befähigung wahrzunehmen und zu verstehen, was doch direkt vor ihm geschehen war. Mit seinen braunen Augen sah er alles. Er sah das Blut, wie es mit jedem von Valëzas verbliebenen Herzschlägen hinausströmte, sah, wie sie die Kraft in ihren Muskeln verlor und ihre letzten Atemzüge zusammengesackt auf dem harten und durchnässten Holzboden des Bootssteges machte, ehe sie der Lebenshauch, mit offenem Mund und den Augen auf ihren Seelenverwandten gerichtet, verließ. Jedoch erreichte diese hautnahe Todesbotschaft nicht die Tiefen seines Bewusstseins. Wie angewurzelt und in Trance blieb er erst stehen und starrte vollkommen entgeistert auf den noch warmen, aber leblosen Leib seiner Frau zu seinen Füßen. Erst, als er hörte wie ein Wagen über den Kiesstrand in die Ferne flüchtete, begann er zu begreifen, was sich eben vor seinen Augen abgespielt hatte.
Sie starb und jemand hatte sie ermordet. "Wie kann das sein? Wieso sollte jemand so etwas schreckliches tun?", schluchzte Korab, immer noch gegen die gnadenlose Wahrheit ankämpfend.
Valëza war für ihn alles. Sie war seine Welt, sein Zuhause, seine Vergangenheit und auch seine Zukunft. Mit keinem anderen Menschen fühlte er sich je derart verbunden. Kein anderer Mensch war ihm je so wichtig wie sie. Mit ihr verlor er einen sehr großen Teil von sich selbst. Die Liebe zu ihr wuchs über all die gemeinsamen Jahre, sie wuchs so stark, dass Valëza für ihn so bedeutsam wie die Luft zum Atmen war. Mehr noch, sie war ihm um ein so Vielfaches wichtiger als er sich selbst. Er hätte alles für sie getan.
Korab wusste, dass sie der Grund war, weshalb er jeden Tag aufs Neue nicht nur mit einem ehrlichen, aufrichtigen und wahrhaft glücklichen Lächeln aufstand, sondern überhaupt den Mut und Willen aufbringen konnte das Leben mit all seinen Einzelheiten in Angriff zu nehmen. Mit Valëza zusammen fiel ihm gleich so vieles einfacher. Dinge, die er sich vormals selbst nie zugetraut hätte, waren nur möglich, weil sie an seiner Seite war, weil sie für ihn da war, weil diese beiden Menschen Partner waren, welche Rücken an Rücken allen Gefahren und Herausforderungen des Lebens trotzten.
Und nun, nun lag sie da. Tot, vom Regen durchnässt, vom Blut gefärbt.
"Sie ist weg. Sie ist weg... Wie kann sie weg sein?", brach Korab mit weiteren Tränen aus, "Verlass mich nicht, Valëza! Lass mich nicht allein zurück! Bitte nicht! Bitte nicht! Bitte sag doch etwas! Bitte!", flehte er.
Das konnte nicht die Realität für den gebrochenen Mann sein. Jedenfalls keine, in der er Leben wollte. Und obwohl er ihren toten Körper in seinen zitternden Armen hielt, und obwohl er den ihm nur allzu bekannten Duft in ihren Haaren roch, und obwohl er spürte, wie der kalte Regen auf ihn niederströmte, wirkte das alles doch noch so befremdlich und unwirklich auf ihn, wie ein Riss in der Realität, der eher einem wahnhaften, kranken Fiebertraum glich, statt des wirklichen Lebens, wie er es gewohnt war.
"Es war doch alles in Ordnung! Wir waren glücklich! Wir haben niemandem etwas getan und waren gute Menschen! Wieso sollte uns das jemand antun? Wieso nur? Wieso?", seine Versuche die Zusammenhänge der Situation zu verstehen, blieben ergebnislos. Zu stark war der Schmerz, der sein Bewusstsein betäubte.
Außer ihr, hatte Korab niemanden. Keine Kinder, keine Freunde und auch sonst keine näheren Bekannten, oder gar Verwandte. Bei Valëza war es nicht anders. Doch die Beiden brauchten auch niemand anderen. Sie hatten sich. Zusammen waren sie allein.
Nun konnte sich der Mann nicht mehr halten und er brach in einem lauten, schmerzerfüllten Heulen aus. Sein ganzer Körper zitterte und verkrampfte sich vor Qual. Deutlich konnte man seine Pein auch in der dysharmonischen Melodie seiner Trauer beben hören. Nie zuvor spürte er so einen Schmerz. Es war die Art Schmerz, bei der selbst die Qualen physischen Traumas verblassen würden. Ein unsäglich tief sitzender und scheußlicher Schmerz, den man nicht einmal seinen schlimmsten Feinden wünschen würde.
In seinem Leben weinte Korab nur als Kind, aber seither nie wieder. Dieses Mal allerdings füllten die Tränen seine Augen solchermaßen, dass er nicht mehr klar sehen konnte. Er umklammerte den Leichnam seiner Frau fest und schrie vor Leid ihren Namen in das endlose, weite Meer hinaus, als ob sie ihn noch hören könnte und zurückkehren würde.
"VALËZA! VALËZA! VALËZA! NEIN!!!"

Mehrere Stunden vergingen, ohne dass Valëzas nun seelisch zerstörter Gatte wahrnahm, wie aus dem Abend die Nacht wurde und wie das Licht zu Schatten zerschmolz. Niemand, außer ihm - mit seiner verstorbenen Geliebten zugegen - hielt sich an diesem Tag und bei diesem degoutanten Wetter am Pier auf. Er wurde ohnehin seit vielen Jahren nicht mehr genutzt und gehörte zu einem längst verwaisten kleinen Fischerdorf, weit abgelegen und verlassen von jedweder größeren Ortschaft.
Längst hatte auch der Regen nachgelassen, ebenso wie Korab keine Kräfte mehr zum Weinen erübrigen konnte. Kühl war es dennoch, zumal der Wind weiterhin fast schon stürmische Wellen trieb. Schwarze Wolken verdichteten sich am Himmel und stahlen jede Möglichkeit einen Blick auf das Sternenzelt zu erhaschen. Selbst das volle Mondlicht drang nur beschwerlich durch die Wolkendecke hindurch. Korab interessierte das nicht. Zwar fror er, zitterte also nicht nur aufgrund des psychischen Traumas, hatte eine sichtliche Gänsehaut, interessierte sich jedoch nicht dafür. All diese Dinge waren ihm vollkommen egal. Katatonisch kniete er da, entkräftet und zerstört, seines Herzens und jeder Möglichkeit eines weiteren Wohlgefühls für immer beraubt. Und er erinnerte sich an den Tag seines und Valëzas ersten Kusses.
Es geschah ebenfalls hier an diesem Pier. Sie waren beide frisch verliebt und trafen sich zu einem romantischen Picknick am Strand. Ein warmer Sommertag mit wolkenlosem, klarem, blauem Himmel machte dieses Rendezvous fast schon zu perfekt. Das Essen konnten sie in gegenseitiger Gesellschaft wunderbar genießen, sie redeten und lachten viel miteinander.
Oh dieses Lächeln, dachte Korab, Sie hatte immer schon so ein wunderschönes und liebliches Lächeln. Ich konnte es mir stundenlang ansehen und davon nicht ermüden.
Die Zeit verstrich wie im Fluge und ehe sie sich versahen, konnten sie den Sonnenuntergang miterleben. Die Lage des Piers war günstig. Bei Sonnenuntergängen konnte man den feurigen Stern im Wasser fern am Horizont, beinahe in einer geraden Linie zum Steg, untergehen sehen. 
Valëza und Korab saßen zu dem Zeitpunkt am Kopfende der hölzernen Meeresbrücke, ließen ihre Füße im angenehm warmen Meerwasser taumeln und beschauten schweigend, aber in vollkommener Harmonie die untergehende Sonne.
Dann, als sie halb im Meer versunken war, richtete Valëza ihre meerblauen und klaren Augen auf Korab, warf ihm wieder jenes Lächeln zu, neigte sich danach vor und küsste ihn schließlich. Es war ein berauschender Augenblick für den damals noch jungen Mann. Er erwiderte ihren Kuss genauso sanft wie sie, so voller Liebe und Wärme, dass es einen Sturm elektrisierender und beglückender Gefühle in ihm auslöste.
Ab jenem Tag waren sie vereint und für über zwanzig Jahre lang ein durchweg glückliches Paar.
Allerdings erwachte Korab wieder aus seinem nostalgischen Traum. Sein Blick fiel wieder auf das leblose Augenlicht seiner Liebsten und kurz darauf folgten erneut Tränen. 
"Ich kann und ich will ohne dich nicht mehr Leben", sprach er und streichelte ihr dabei sanft über die Wangen.
Manch einer hätte Wut und Hass empfunden und würde Rache für solch einen Akt nehmen wollen. Doch nicht Korab. Dinge, wie Rache, oder Hass, hatten keine Bedeutung mehr für ihn, nicht ohne seine Valëza. Es würde ihm seine Geliebte nicht zurückbringen, würde er ihren Mörder zur Rechenschaft ziehen. Zumal Valëza sich niemals gewünscht hätte, dass Korab sich auf einen derart finsterem Pfad begab. Das wusste er mit Sicherheit, denn sie war die Eine. Die Frau und die Liebe seines Lebens, seine Seelenverwandte, seine Göttin, sein Ein und Alles. Und nun ist sie zu Nichts geworden. Nichts weiter mehr, als eine leblose, gefühllose und kalte fleischliche Hülle.
Am Ende sind wir bloß kaltes Fleisch, über das die Wehmut sein Leichentuch mit Laudatio zieht. Und nur ein Schrei von Kummer eilt dann noch der untergehenden Sonne entgegen.
"Vergib mir", drückte er sich nun laut und nicht gedanklich aus, "Aber den anderen Wunsch kann ich dir nicht erfüllen." 
Valëza würde wissen, dass er damit sein Leben meinte. 
"Es gibt nichts lebenswertes für mich auf dieser Welt. Du warst das einzige Feuer, das für mich brannte." 
Korab schob seinen rechten Arm unter ihre Beine und seinen linken unter ihren Oberkörper und hob sie sodann auf, während er sich selbst zeitgleich aufrichtete. Er trug sie zum Strand zurück, nur um dann an der linken Seite des Steges entlang langsam in das kalte Wasser hineinzuwaten.
"Im Tod werden wir uns wiedersehen, geliebte Valëza."

Die Wellen des Meeres peitschten kräftig gegen das Ufer und damit gegen Korab. Als würde Valëza mich aus dem Jenseits aufhalten wollen, kommentierte er dies gedanklich. Doch die Strömung war nicht stark genug, um ihn aufzuhalten, sodass er weiter voran kam und Valëza bereits in das fast schwarze Wasser eintauchte.
"Die Flut wird uns Trost spenden, bis wir wieder vereint sind."
Nun war Korab selbst bereits bis zum Hals im Wasser und zwängte sich weiter nach vorn. 
Welch eine Ironie es doch ist, dass unsere gemeinsame Zeit an genau dem Ort tragisch endet, an dem sie einst so wundervoll begonnen hatte, verbittert waren seine Gedanken.
Kurz bevor das Wasser seinen Mund erreichte, widmete er Valëza seine letzten Worte:
"Ich werde für immer bei dir sein. Ich liebe dich!"

Und dann wehrte er sich nicht gegen die salzigen Wassermassen, welche seinen Mund und seine Nase fluteten. Er ließ es zu. Er atmete es ein; ließ es in seine Lungen strömen und versuchte mit seinen letzten Kräften noch weiter und noch tiefer hinaus in das finstere, schwarze Meer zu tauchen.
Seine Tränen verschmolzen mit dem Meer. Sein Lebensodem gefror. Sein Bewusstsein ertrank.

Die Kälte und tiefe Dunkelheit umhüllte ihn. Das Licht an der Oberfläche verschwand.
Vielleicht täuschte er sich, er war schon nah am Rande des Todes, hatte gerade noch einen letzten Funken von Verstand, doch die Wolken lichteten sich ein wenig und ließen das kalte und weiße Licht des Mondes in das Meer stechen und Korab war überzeugt, dass das letzte, was er vor seinem endgütligen Ableben noch wahrnehmen konnte, das liebliche und süße Lächeln auf dem Gesicht seiner geliebten Valëza war.




~ Lupus Terre



Mittwoch, 15. Juli 2015

Der Namenlose V ~ Veramon & Zacrolon

Nein, noch kann ich denken. Der Schmerz hat aufgehört und ich spüre nichts mehr. Keine Kälte, keine Wärme, keinen Schmerz und auch sonst absolut nichts. Ebenso all meine anderen Sinne scheinen versagt zu haben. Ich kann weder sehen, noch hören, weder fühlen, noch riechen, ich habe keinerlei Empfinden mehr. Das Nichts umgibt mich. Blind und entsinnt verharre ich, bin zu nichts weiterem befähigt als meinem inneren Bewusstsein. Ich kann denken, doch nichts wahrnehmen. Ist dies das Leben nach dem Tod? Werde ich nun für den Rest der Ewigkeit einfach ein Fetzen von Gedanken sein, der irgendwo durch eine endlose Finsternis schwebend auf das Ende aller Zeiten wartet?
Oder bin ich doch noch lebendig und etwas anderes ist für diesen meinen Zustand verantwortlich?
Ich bin gestorben. Ich bin mir sicher, dass ich gestorben bin. Denn ich habe gespürt, wie ich bei lebendigem Leibe von den Körperlosen gefressen worden bin. Sie haben mein Fleisch und meine Organe zerstört. Wahrscheinlich sind meine sterblichen Überreste mittlerweile nichts weiter mehr als ein Haufen blutiger Knochen, an denen vielleicht noch einige Fleischreste kleben. Das letzte Zeugnis meiner Existenz.
Es war ein qualvoller Tod. Dennoch bin ich froh, dass ich so rasch mein Bewusstsein verloren hatte.
Aber halt! Allmählich spüre ich doch etwas! Mein Rücken fühlt sich kühl und feucht an, überdies spüre ich einen ebenso kühlen und feuchten Windzug über meinen Oberkörper wehen. Bin ich doch nicht gestorben? Wurde ich doch nicht aufgefressen? War dies nur eine alptraumhafte Illusion?
Jedoch frage ich mich, wo ich mich nun aufhalte. Wo bin ich?
Es ist kühl, aber nicht kalt. Allmählich erlange ich wieder die Fähigkeit zu atmen. Kein widerwärtiger faulender Gestank, sondern eine frische und reine Luft ist es, was ich mit meiner Nase wahrzunehmen vermag. Auch ist die Luft nicht kalt und trocken, wie noch zuvor, als ich aus dem schwarzen Fluss zum unendlichen Weiß tauchte, sondern weniger kalt, eher kühl und feucht.
Höre ich? Höre ich tatsächlich, wie der Wind durch meine Umgebung hindurchweht? Ich vermag aus meiner unmittelbaren Umgebung ein seichtes Racheln zu vernehmen, ich höre den verschwommenen tiefen und unauffälligen Klang des Windes, mit diesem leichten spitzen Knistern, wie es doch so typisch für den Klang des Windes durch Wälder ist.
Auch das Gefühl im Rest meines Körpers kehrt wieder, nicht zuletzt auch in meine Hände. Ich ertaste den Boden, auf dem ich liege und spüre unzählige weiche, längliche und hauchdünne Strukturen. Ist das Gras? Es fühlt sich an wie Gras. Es muss Gras sein! Und ich hoffe, dass es Gras ist. Ich flehe darum, dass dieser Alptraum endet und ich wieder in der von mir gewohnten Welt erwache.
Meine Augen sind geschlossen. Ich wage es, sie zu öffnen und sehe... den Himmel!
Grauweiße Wolken hängen schwer in der Höhe und bedecken das gesamte Firmament. Das Licht ist weder dunkel, noch hell. Ebenso, wie es schwer einzuschätzen ist, ob die Wolken Regen hinabfallen lassen wollen, scheint das Licht sich nicht zwischen hell, oder dunkel entscheiden zu können. Die Welt um mich herum verharrt im Zwielicht.
Ich richte mich auf und prüfe erst, ob es an meinem Körper irgendwelche Verletzungen oder Zeugnisse dessen gab, wie ich gestorben zu sein schien.
Doch es ist alles bei bester Ordnung. Keine einzige Verletzung, keine Kratzer, keine Bisswunden. Mein Körper ist unversehrt.
Nun, wissend, dass all meine Erlebnisse der vergangenen Stunden wohl nichts weiter waren, als ein Alptraum, betrachte ich meine Umgebung und versuche mich wiederzufinden. Ich will nach Hause und einfach nur alles vergessen, was ich erlebt habe. Ich hinterfrage gar nicht erst, wie ich an diesen Ort gelangt bin. Ich will einfach nur weg.
Zu meiner rechten Seite erkenne einen überschaubaren See. Fast schon mehr ein großer Teich, statt eines Sees. Das Ufer ist in nur knapp drei Armlängen weit von mir entfernt. Schilf und allerlei anderes Seegewächs schmückt die Gestaden. Ich befinde mich am Hang eines größeren Hügels, der von einer Wiese bedeckt ist. Vor mir erhebt sich in etwas größerer Entfernung ein Waldgebiet, doch das restliche Gebiet wird von einer hügeligen Graslandschaft geprägt.
Ich stehe auf, erleichtert, dass ich wieder in der Welt der Menschen zu sein scheine. Was waren das doch bloß für Ausgeburten kranker Fantasien eines wahnsinnigen Schriftstellers! Ein Alptraum. Nur ein ausgedehnter und schrecklicher Alptraum.
Um auch zu erfahren, was auf der dem Wald gegenüberliegenden Seite vorzufinden ist, drehe ich mich um. Bei dem, was ich nun erblicke, verschlägt es mir die Sprache, all meine Erleichterung verfliegt instantan. Noch immer bin ich in diesem Wahnsinn gefangen!
In weiter Ferne schließt sich an die Hügellandschaft ein rieseiges Areal an, welches von schwarzen Wolken bedeckt wird. Rote Blitze schlagen in unnatürlich häufigen Intervallen durch die Wolken und hinab auf den Boden. Ein ganz und gar dystopisches und finsteres Bildnis. Doch das ist noch das harmloseste, was ich sehe. Denn es erheben sich gewaltige Berge menschlichler Leichen. Leblose Körper regnen unentwegt aus den schwarzen Wolken herab und klatschen heftig auf die nackten und bereits entstellten Leiber unter sich, welche sich unlängst zu einem gewaltigen Gebirge angehäuft haben, welches den gesamten Horizont füllt. Und wenn ich es aus der Entfernung richtig sehe, so fehlt jedem dieser Körper der Kopf. Ungerne erinnere ich mich an den Regen der schreienden Köpfe zurück. Jetzt weiß ich wenigstens, wo ihre Körper verblieben sind. Eigentlich will ich das gar nicht wissen.
Verflucht! Wieso bin ich immer noch hier? Habe ich nicht schon genug durchlitten?
Meine Muskeln spannen sich, die Verzweiflung tränkt meine Sinne, meine Frustration treibt Wut, und meine Wut treibt Tränen hervor.
Kniend lasse ich mich auf den Boden fallen, schlage in das Gras hinein, blicke dem Himmel entgegen und schreie. Ich schreie all meine Gefühle hinaus. Schreie vor dem Entsetzen und meinem Unvermögen diesen Fluch auch nur eine Sekunde länger zu ertragen.
"WARUM? WAS WILLST DU VON MIR, DÄMON? WIESO HAST DU MICH HIERHER GEBRACHT?", brülle ich mit all meiner Kraft in den Himmel, mehr aus dem Grund mein Verzweifeln zu entladen, als aus der Hoffnung darauf je eine Antwort zu erhalten. Ich bin hier Gefangen und der schwarze Dämon genießt es mich zu quälen.
Als ich meinen Kopf wieder senke, um mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, entdecke ich zu allem Überfluss den offenbar toten Leib einer jungen Frau zu meiner linken Seite am Ufer liegen.
Verdreckt, und im Ufergewächs teils versteckt liegt der leblose Körper ausgestreckt halb im Wasser und halb auf dem verschlammten Boden. Es kostet mich nicht viel Zeit, um zu erkennen, dass es wieder jene schwarhaarige Frau ist, welche mich zuletzt mit ihrer Gegenwart quälte. Diesmal jedoch ist ihr Haupt ohne irgendwelche Spuren, dass es je abgetrennt worden war, an ihrem Hals verwachsen.
Im Schein des Zwielichtes erkenne ich nun zum ersten mal ihren leichenblassen Hautton. In ihre Augen wage ich es nicht zu blicken. Ihr Gesicht liegt ohnehin seitlich von mir abgewandt auf dem Boden, ebenso wie ihr gesamter Körper mit seiner Vorderseite dem schlammigen Untergrund zugewandt ist. So wie sie dort daliegt, würdelos mit einem Teil ihres Körpers vom Schlamm bedeckt, beginne ich Mitleid für sie zu empfinden. Niemand hat solch ein grausames Ende verdient. Niemand. Auch nicht ich. Doch mein Empfinden für Gerechtigkeit scheint nichts an meinen Umständen auch nur ansatzweise etwas zu verändern. Und ich naiver Idiot hatte tatsächlich geglaubt, dass ich aus dieser Hölle befreit worden wäre. Welch eine Torheit!
Es bringt jedoch nichts weiter den Dämon und sein Schattentheater zu verfluchen. Meine Gefühlsausbrüche bringen mich nicht weiter. Ich muss mich wieder besinnen. Und so wische ich mir die letzten Tränen aus dem Gesicht, nehme einen tiefen Atemzug der frischen und natürlichen Luft, richte mich auf und wende mich dem Gipfel des Hügels entgegen. Vielleicht erhalte ich weitere Anhaltspunkte, wenn ich einen besseren Überblick über das Gelände bekomme. Versuchen will ich es jedenfalls. Wer weiß, welche Überraschungen noch auf mich lauern.
Ich lasse den See und die junge Frau hinter mir, vermeide es zum Leichengebirge zu blicken und stampfe durch das satte grüne Gras hinauf. 
Etwas seltsames vermag ich während meines Aufstiegs an den Fraben des Himmels zu vernehmen. Es scheint, dass sich die grauen Wolken nach und nach auflösen, je weiter mein Blick über den Hügel sehen kann. Der Himmel, der von den Wolken verdeckt wird, ist jedoch nicht blau, sondern schwarz. Schwärzer als die Nacht. Der Übergang zwischen den Wolken und dem finsteren Himmelsteil ist fließend. Eine gewisse Furcht macht sich in meinen Eingeweiden bemerkbar. Eine Furcht vor einem neuen Schrecken. Ich weiß nicht, wie viel ich noch aushalten kann. Das, was ich bisher erlebt habe, kann ich schon kaum verarbeiten. Doch Stillstand bedeutete die ewige Gefangenschaft, vielleicht sogar meinen endgütligen Tod. Irgendetwas musste ich ja unternehmen, um wenigstens zu versuchen einen Ausweg aus diesem Labyrinth des Schreckens zu finden. Ich muss mich und meine Ängste überwinden, ich muss weiter voran schreiten!
Erleichterung kehrt ein. Ehrfurcht und nicht die Furcht ist das, was ich bei dem Panorama, das sich vor meinen Augen nun ausbreitet, empfinde. Meinen Augen möchte ich kaum trauen.
Vom Gebirge aus kopflosen Körpern zu meiner linken, bis hin zum Wald auf meiner rechten Seite, erstreckt sich ein gewaltiges schwarzes Gebilde, das sich - am Fuße des Hügels beginnend - bis in den Himmel hinauf erstreckt. Das verblüffende und zeitgleich überaus imposante daran ist die konkrete Struktur des Gebildes. Vom Himmel aus entspringen wurzelartige Gebilde, wie die Wurzeln eines Baumes, doch derart gewaltig, dass dies kein natürliches Werk sein kann. Überdies sind die Wurzeln nicht braun und hölzern, sondern wie von Feuer verkohlt. Hell in feurigem orange-gelb ziehen sich pulsierende Linien an den obskuren Wurzeln zum Zentrum des gesamten Gebildes hin, als wären es die Adern eines Lebewesens. Diese Wurzeln führen zu einer riesigen hölzernen Wand. Nein mehr noch: Es ist eine durchgängige und lückenlose Mauer, ebenso von verkohlter hölzerner Struktur und von diesen feurigen Adern durchzogen. Und inmitten dieser Mauer erstreckt zentral ein ungemein riesiges Loch, wie eine Art Portal, oder Tor, welches am direkt am Ende Hügels mündet. Eine wahrhaft atemberaubende und mächtige Gestalt, welche bei weiterem Nachdenken jedoch die Sorge säht, welche Funktion es haben könnte. So scharf und konrastreich, fast wie ein Riss in der Realität - sofern ich diesen Alptraum Realität nennen kann, grenzt es sich von allem anderen an diesem Ort ab. Ich kann nichteinmal spekulieren wohin das Tor führt, welches sich in diese abnorme Perversion eines Baumes gepflanzt hat. Doch irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich genau dort hin muss. Irgendetwas zieht mich dorthin. Ich komme nicht umhin zu denken, dass ich dort Antworten auf Fragen finden werde, die mich schon seit meiner ersten Begegnung mit dem silber-weiß gezahnten Dämon zerreissen. Wirklich befremdlich, wenn ich bedenke, dass der Anblick eher unheilvoll und furchterregend, statt einladend und willkommend ist.
Ich nehme den mir verbliebenen Mut zusammen und gehe voran, den Hügel hinunter, in den Schlund des toten Baumes hinein.

Wenig Zeit vergeht, ehe ich vor der Pforte stehe und in ein gewaltiges schwarzes Nichts hineinblicke, wie schon so oft in dieser verzerrten Realität. Wenngleich ich zaghaft bin und es nicht überstürze die Schwelle hinein zu übertreten, steht der Entschluss für mich fest, mich an diesen Ort zu begeben. Ein letztes Mal noch blicke ich zurück auf den Hügel mit seinen satten grünen Weiden, von dem ich gekommen war und erhasche ein letztes Mal noch den Anblick der zwielichten, grauweißen, regenschweren Wolken, die das Firmament bedecken. Dann konzentriere ich mich wieder auf den finsteren Pfad vor mir und schreite durch das Tor hindurch.
Meine Schritte hallen in dieser lichtlosen Schwärze wider, als würde ich eine Kathedrale betreten. Es hat keinen Sinn nach einem Orientierungspunkt für meine Bewegungen zu suchen, da ich hier ohnehin nichts sehen kann. Also verlasse ich mich auf das Echo, das durch diese unendlich scheinende Leere hallt und gehe weiter, solange ich den festen Boden unter meinen Füßen spüre.
Ich verstehe nicht, was es ist, aber irgendetwas treibt mich weiter voran, immer weiter vorwärts, hinein in die endlose Dunkelheit. Es ist so, als ob mich etwas riefe.
Nach einer Weile bleibe ich stehen und versuche einen Lichtschimmer aus der Richtung zu erhaschen, aus der ich gekommen war. Doch ich sehe nichts. Ich bin bereits zu sehr in die Dunkelheit hineingetaucht. Unwissend, ob dieser Ort nicht vielleicht sogar auch in der Lage ist die Gesetze der Physik zu beugen, und mich daher nicht sogar absichtlich in eine orientierungslose Irre führt. Vielleicht ist der Schlund dieses Baumes doch nur eine Falle und ich bin auf eine Art Lockruf hineingefallen.
Ich beschließe in die Leere hineinzurufen: "Hallo? Ist hier jemand?" und warte ab.
Wenige Sekunden später werde ich mit einer Antwort überrascht. Eine tiefe und laute Stimme ertönt, sie klingt fast wie die eines Mannes, doch unnatürlich tief, sie sagt lediglich: "Ja."
Eine Gänsehaut durchfährt mich und ich versuche hektisch auszumachen, woher diese Stimme stammt. Jedoch scheint es mir, als ertönte die Stimme aus allen Richtungen gleichzeitg, als wäre sie allgegenwärtig. So nah bei mir, aber doch nicht da.
"Wer bist du?", frage ich.
Plötzlich saust ein schmaler blauer und elastischer Streifen aus Licht vor meinen Augen durch die Luft und umkreist mich in einem rasanten Tempo, ehe er wieder im Nichts verschwindet. Ohne es laut auszusprechen, fragte ich mich leicht erschrocken, was das wohl gewesen sei.
"Ich bin der, der die Wahrheit kennt.", antwortet mir die scheinbar quellenlose Stimme.
"Welche Wahrheit?", erkundige ich mich verwundert und erwarte wieder ein Aufblitzen irgendeines ominösen Lichtes.
"Jede.", ist die knappe Antwort, welche mich nur umso mehr rätseln lässt. Doch vielleicht darf ich es wörtlich nehmen. Wenn er, oder es, tatsächlich jemand ist, der die Antworten auf meine Fragen kennt, lag ich mit meinem Gefühl hierher zu kommen richtig. 
Diesmal blitzte kein Licht durch die Finsternis.
"Dann sag mir, wo bin ich?", eine der Fragen, die mir am wichtigsten ist.
Blitze durchbrechen auf ein mal die Finsternis, dies kam wieder unerwartet. Unzählige bläuliche Lichtstreifen zischen schier planlos an mir vorbei und versammeln sich an einem Fleck, an dem sie sich zu einer Art Kugel zusammenfinden, welche zappelnd wirkt, aufgrund der vielen Bewegungen jedes einzelnen Lichtblitzes. Ich versuche zu verstehen, was es damit auf sich hat und beobachte weiter, fokussiere meine Konzentration jedoch auf die Worte der Stimme, welche kurz darauf wieder ertönt: "Du bist dort, wo die Existenz mit der Nichtexistenz zusammenfällt. Du bist da, wo alles zu Nichts wird und wo das Nichts den Anfang von Allem legt."
Ich hätte nicht so naiv sein dürfen zu hoffen, dass seine Antwort mich von meiner Verwirrung und Unwissenheit erlösen würde. Diese Antwort sorgt nur für mehr Kopfzerbrechen.
War dies eine Art Zwischenwelt? Eine Existenzdimension, welche nach dem Tod kommt? Fragen über Fragen fluten mein Gehirn, aber wenigstens ist hier nun ein Geschöpf, welches mir Antworten geben kann. Ich zügle die Ströme meiner Gedanken und stelle die nächste Frage, die mir wichtig ist:
"Wieso bin ich hier?", ich richte meine Worte an die flimmernd blaue Kugel, als würde sie die Stimme sein.

"Weil er dich hergebracht hat, um dich hier vernichten zu können. Hier bist du nur ein Opfer, eine Marionette in seinem Spiel. Du bist machtlos und deine Existenz liegt in seiner Hand."
Mit "er", meint die Stimme wahrscheinlich das dämonische Geschöpf, welches mich in diese Dimension brachte.
"Wer ist er?", frage ich und werde von einer Explosion aus Licht überrascht. Die Lichtstreifen, welche die Kugel zuvor noch darstellten, entfernen sich innerhalb weniger Sekundenbruchteile weit von mir weg, bis sie nach wenigen Augenblicken nicht mehr zu sehen sind. Doch die Stimme antwortet mir weiterhin:
"Er ist der erste Schatten. Er ist Wut, Zorn und Hass. Er ist Rache und Vergeltung. Er ist Qual und Verzweiflung. Er ist der Schlächter der Zeit, das Ende von Allem. Er ist der Moment des Sterbens, das ewig hungrige Biest, welches Löcher in Existenzen frisst. Sein Name ist Zacrolon und du bist sein Schöpfer."

Zacrolon, das ist also der Name des Dämons. Ein offenbar überaus mächtiges Wesen. Wie die Stimme ihn beschreibt stiehlt es mir die Hoffnung ihn jemals besiegen und aus dieser Verdammnis fliehen zu können. Doch ich soll sein Schöpfer sein? Ich entsinne mich, dass Zacrolon mir sagte, er sei ich und nicht sein Schöpfer. Wie soll ich das verstehen? Was hat das zu bedeuten?
"Wenn sein Name Zacrolon ist, wie ist deiner? Du scheinst mir auch ein Wesen großer Macht zu sein.", ich ahne schlechtes.
Plötzlich schossen wieder die Lichtblitze aus der Dunkelheit hervor, versammelten sich wieder an einem Fleck, diesmal jedoch vereinten sie sich nicht zu einer Kugel, sondern zappelten nach oben gerichtet vereint um einen Fleck zentriert herum, als wären sie ein Feuer.
"Veramon. Dies ist der Name, den du mir gabst. Ja, auch ich bin eine Kreatur, die du geschaffen hast."
Das Wesen wusste, was ich ahnte. Es scheint, als würden alle Dinge, die um mich herum an diesem Ort geschehen auf irgendeine unverständliche Art und Weise durch mich hervorgerufen worden zu sein. Ich beabsichtige noch nicht zu ergründen, wie genau meine Rolle in diesen abstrusen Zusammenhängen ist, sondern stelle zunächst eine weitaus wichtigere und naheliegendere Frage, die mir auch helfen würde mehr zu verstehen:
"Warum will er mich töten?"
Einige der blauen Lichtfäden begannen sich violett, fast schon rot zu verfärben und verleihen nun umso mehr den Eindruck von Feuer. Ist dies Veramons Gestalt?
Doch seine Stimme ertönt nach wie vor aus allen Richtungen gleichzeitig:
"Weil du vergessen hast."

"Was? Was habe ich vergessen?", reagiere ich spontan.
"Deinen Namen", gibt mir Veramon zu verstehen und zeitgleich verfärben sich auch die letzten blauen Streifen über ein Violett hinweg zu einem kräftigen Rot.
"Meinen Namen? Aber ich kenne doch...", ich halte inne. Ich Narr war die ganze Zeit so besessen davon zu erfahren, wo ich hier bin und weshalb ich hier bin, dass ich nicht einmal wirklich darüber nachdachte, wo ich herkam! So sehr ich mich auch anstrenge, mir will mein Name nicht einfallen! Wie kann ich bloß meinen Namen vergessen? Wie ist das geschehen? Wie ist mein Name? Wer bin ich?
Ich erinnere mich an die junge Frau, auch sie fragte mich danach, wer ich sei, doch ich konnte nicht antworten. Über eine Antwort habe ich nicht einmal nachgedacht.
Allmählich ergeben meine Hinweise ein klareres Bild. Habe ich eine Art Gedächtnisverlust erlitten? Wie kann ich vergessen jemand derart mächtiges zu sein, dass ich gar solche grausamen Kreaturen erschaffen kann? 
Veramon ergreift plötzlich das Wort: "JA! WIE KANNST DU ES NUR VERGESSEN?!"
Seine Stimme klang gewaltig laut und höchst erzürnt, die nun roten Lichststreifen wuchsen rasant in die Höhe und die Art und Weise, wie sie umherflackerten zeichnete durch den Wechsel aus Licht und Dunkelheit eine Fratze ab. Ich erschrak mich im selben Moment. Die Form des Bildnisses erinnert mich stark an Zacrolon, oder zumindest an das, was ich damals an ihm erkennen konnte. Und doch hatte es seine Eigenheiten. Es war viel schmaler und langezogener als Zacrolons Kopf. War dies das wahre Gesicht Veramons? 
"UND AUCH ICH WILL DICH TÖTEN!", schrie Veramon hinaus. Ich hätte nicht herkommen dürfen! Es war eine Falle! Ich habe es gewusst und mich dennoch hierher begeben! Ich Tor! Ich elender Narr! 
Die Leuchtfäden verwandelten sich schlagartig in wahrhaftige Flammenspitzen, ich war nah genug, um die Hitze zu spüren, die sich durch das Nichts ausbreitete.
Ich muss hier weg! Das ist mein einziger Gedanke. Ich dreh mich um und renne ziellos in die Dunkelheit, um möglichst viel Distanz zwischen mir und den Flammen Veramons zu schaffen.
Doch dann schießen plötzlich auch Flammen vor mir aus dem Boden empor und halten direkt auf mich zu. Ich weiche aus, ändere meine Richtung und wieder versperren mir emporschießende Flammen den Weg und verfolgen mich. Und wieder weiche ich aus und wieder ändere ich meine Richtung und wieder versperren mir Flammen den Weg. Es gibt kein entkommen, ich bin eingekerkert!
Ich wende mich zu meiner Rechten und sehe mehrere langgezogene, speerartige Feuerspitzen geradewegs und unaufhaltsam auf mich zuschießen.
Ich brenne.




by
Lupus Terre



Samstag, 11. Juli 2015

Traumsequenzen: Daliahs Treppe

Schwach war das Licht, das durch die farblosen, großen Fenster von der mir gegenüberliegenden Seite dieses Raumes hindurch schien. Vielleicht lag es an diesem düsteren Licht, dass die hölzernen Strukturen um mich herum fahl und fast schon grau statt dunkelbraun wirkten. Hinter mir war eine ebenso hölzerne Tür, die teilweise im Schatten lag. Ich machte einige Schritte nach vorn zur ebenso fahlen und hölzernen Brüstung, um mich an diesem Ort umzusehen. Anscheinend befand ich mich am obersten Ende eines Treppenhauses mit unnötig großzügigen Ausmaßen. Der Raum war rechteckig. Vier kahle, graue Betonwände, eine offenbar mit Holz verkleidete Decke und eine hölzerne Treppe, die so tief hinunterführte, dass das Licht der wenigen Fenster auf meiner Etage nicht ausreichte, um den Boden zu erreichen. Es wirkte, als würde diese Treppe in eine schier endlose Finsternis hinabführen.
Verglichen mit der Breite der Treppe, die von meiner rechten Seite beginnend spiralförmig an den Wänden entlang hinunter in die Dunkelheit führte, war der Zwischenraum in der Mitte dieses Treppenhauses fast schon unnötig riesig. Erschreckend riesig; ich fragte mich, weshalb dem so war.
Außer mir, war hier offenbar niemand. Da ich nicht wusste, was mich am unteren Ende der Treppe erwarten würde, kehrte ich zu der Tür hinter mir zurück, und hoffte durch sie einen Ausweg aus diesem Raum zu finden. Doch sie schien fest verschlossen zu sein. Ich sah keine Möglichkeit sie zu öffnen.
Dann hallte auf einmal der schrille Schrei einer Frau durch das Treppenhaus. Überrascht zuckte ich zusammen, eine Gänsehaut durchfuhr mich - damit hatte ich hier nicht gerechnet.
Ich eilte unverzüglich wieder zu der Brüstung, an der ich vorher stand, und suchte die Treppen nach dem Anzeichen einer Person ab. Plötzlich der nächste Schrei: "HILFE!!!", echote ihr Ruf über die graubraunen Stufen hinweg. 
Da ich sie nirgends sehen konnte, musste sie weitaus tiefer im Treppenhaus sein. Höchstwahrscheinlich war sie irgendwo in der Finsternis verborgen. Also rannte ich die Treppe entlang hinunter, so schnell ich konnte, in der Hoffnung, dass meine Hilfe sie nicht zu spät erreichen würde.
Auch der dumpfe Klang der Holzstufen hallte durch den Raum, während ich trotz meiner Eile darauf bedacht war keinen Schritt derart falsch zu setzen, alsdass ich stürzen und mich verletzen würde.
Immer und immer wieder schrie sie auf, schrie nach Hilfe, fragte, warum denn keiner da sei, sie verdammte das Leben und die Welt. Sie schien vor etwas zu fliehen. Große Furcht schwang in ihrer Stimme mit. Oder war es Verzweiflung? Vielleicht war es sogar beides.
Ich rannte so schnell ich konnte. Das Licht um mich herum schwand nach und nach. Mit jedem weiteren Schritt auf dieser elend langen Treppe wurde es dunkler, farbloser, lichtloser, lebloser.
Irgendwann war ich komplett von Dunkelheit umhüllt, ich konnte nur noch erahnen, wo sich Stufen befanden, sie jedoch nicht sehen. Mein Tempo verlangsamte sich dementsprechend. Ein Glück, dass ich näher zu kommen schien. Ihre Stimme wurde lauter und deutlicher. Nur noch ein kleines Stück, dann wäre ich soweit, dass ich ihre Position bestimmen könnte.
Kaum zu Atem kommend rief ich ihr zu: "Halte durch! Ich bin gleich da! Ich komme dir zu Hilfe!".
Wieder ertönte ein Schrei,- markerschütternd; und der Boden bebte, es klang nicht mehr menschlich. Der Schrei kam nicht von ihr. Jemand - oder etwas - anderes stieß dieses grässliche Gebrüll aus. Ein bedrohlicher und verzerrter Klang, wie der eines Ungetüms. Der Aufschrei eines Jägers, welcher seine Beute aus dem Versteck schrecken will.
"BEEIL DICH!!!", rief sie so panisch, so voller Furcht und traumatisiertem Beben in ihrer Stimme, als würde sie kurz davor stehen ihr Leben zu verlieren.
"Verflucht!", dachte ich mir, "wieso muss es hier so dunkel sein?!". Doch ich schien bereits ganz nah bei ihr zu sein.

"Wo bist du?", fragte ich laut.
"Hier!", ertönte es kaum noch einige Schritte von mir entfernt. Ich stoppte und streckte meine Hände aus, um sie zu ertasten. 
"Komm zu mir!", forderte ich sie auf, "Folge dem Klang meiner Stimme! Ich werde dich hier raus holen."
Wenig später stieß mein rechter Arm grob gegen sie. Ich ertastete sie rasch, fand ihre Schulter und nahm danach ihre Hand fest in die meine, als plötzlich wieder dieser grässliche Schrei ertönte. Meine Ohren schmerzten stark, es fühlte sich an, als würden sich tausende Nadeln durch meine Gehörgänge bohren.
"Wir müssen hier weg!", wimmerte sie und klang verstört und verheult.
Ich kommentierte lediglich: "Beeilen wir uns!", und zerrte sie hinter mir die Treppen hinauf, so schnell wie wir gemeinsam konnten.
Je weiter wir kamen, desto öfter und grässlicher schrie dieses Biest durch die Finsternis. Glücklicherweise hatten wir jedoch Erfolg damit die Distanz zwischen uns und diesem undefinierbaren Etwas zu vergrößern.
Ich wusste nicht mehr, wie viele Etagen ich hinuntergerannt sein muss, doch beim Aufstieg spürte ich besonders in meinen Beinen, dass es viele gewesen sein müssen. Es war beschwerlich, selbst all das Adrenalin, das durch unsere Adern pumpte, war nicht genug, um uns genug Kraft zu geben, sodass wir das Tempo hätten beibehalten können. Wir ermüdeten und wurden langsamer. Aber wissend, dass das Biest irgendwo hinter uns im Schatten verborgen war und uns verfolgte, stand für uns eindeutig fest, dass wir keine einzige Verschnaufpause einlegen durften. Wir rannten weiter, zwangen uns, und wenn wir kurzzeitig langsamer wurden, rafften wir uns spätestens beim nächsten ohrenzerreissenden Schrei zusammen, um uns weiter zu beeilen.
Nach einer Weile des unermüdlichen Rennens sahen wir auch allmählich das Licht wiederkehren. Wir waren noch gut ein halbes Dutzend Etagen von der obersten entfernt.
Erst jetzt wurde mir eines klar: Die Tür ganz oben war verschlossen. Selbst wenn wir sie erreichen würden, mussten wir sie rechtzeitig öffnen können, damit uns dieses dämonische Wesen nicht in seine Klauen bekam.
Und selbst wenn wir sie aufbekommen sollten, wer weiß, was uns dahinter erwartet?
Diese Tür war unsere einzige Chance.

Alsbald wir oben angekommen waren, teilte ich ihr hastig mit: "Schnell, da zur Tür!", und versuchte die Tür irgendwie aufzubekommen, ohne auch nur einen Blick davon abzuwenden, während die Frau hinter mir irgendwo an der Seite stehen blieb und die Gelegenheit dazu nutze ihren Atem zu erholen.
Ich betätigte unterdessen wie ein Wahnsinniger die Klinke, nahm Anlauf und versuchte diese Holztür aufzurammen, ich versuchte sie aufzutreten, ich probierte alles aus, was mir in den Sinn kam. Doch nichts funktionierte. Dieses verdammte Ding wollte sich einfach nicht öffnen lassen.
Erst, als ich aufgeben wollte, ist mir bewusst geworden, dass gewiss bereits einige Minuten vergangen sein mussten und seit unserer Ankunft auf dieser Ebene kein einziger Schrei mehr zu vernehmen war.
Um mich zu vergerwissern hielt ich inne und horchte. Kein Geschrei, kein Beben. Nur das schwere Atmen der Frau und mir.
Ich drehte mich zu ihr um und sah sie nun zum ersten Mal im - wenngleich trüben - Licht. Sie wirkte jung und hatte etwa schulterlange rötliche Haare, ein helles und vor Schrecken blasses und schmales Gesicht. Ihre Augen konnte ich nicht genau erkennen, doch alles in allem kam mir diese Person vertraut vor. Ich kannte sie. Es war Daliah, meine beste Freundin.
"Daliah? Bist du es?", wollte ich sicherstellen.
Sie richtete ihren Blick auf mich und antwortete - immer noch voller Erschöpfung und noch nicht ganz zu Atem gekommen: "Ja, ich bin es. Danke, dass du mich da herausgeholt hast!"
"Was ist das hier für ein Ort und woher stammte dieses kranke Geschrei? Denkst du, es ist fort?"
"Ich weiß nicht, wo wir sind. Und nein, sie sind nicht fort, sie kommen bald wieder."
"Sie?", hakte ich verwundert nach, "Wer sind sie?".
"Die Schatten", und ehe ich erneut nachfragen konnte fuhr sie fort: "Meine Schatten."
Allmählich zeichnete die Angst wieder ihr Gesicht.
"Oh nein... oh nein nein nein nein!", stammelte sie immer unruhiger werdend.

"Wir müssen hier weg! Wir müssen auf jeden Fall hier weg! Sie kommen sonst wieder. Und ich will nicht, dass sie kommen!", Tränen flossen über ihre Wangen und sie begann nervös hin und her zu laufen. Derart am Ende ihrer Nerven habe ich sie noch nie erlebt. In der Hoffnung sie beruhigen zu können und gemeinsam mit ihr einen Ausweg zu finden, machte ich einen Schritt auf sie zu, packte sie fest an den Schultern und blickte ihr in die Augen.
"Daliah!", sprach ich sie mit einem strengen Tonfall an, "Schau mir in die Augen! Sieh mich an!", sie folgte meiner Aufforderung, wenngleich es wohl Mühe zu kosten schien; sie war kaum noch bei Sinnen.
"Ich bin hier. Okay? Ich bin hier und bin für dich da! Zusammen werden wir das schon schaffen! Du bist nicht alleine! Ich werde dich beschützen! Hast du mich verstanden?"
Sie sammelte sich wieder ein wenig und antwortete: "Ja... ja."
"Gut! Versuch dich jetzt zu konzentrieren. Was weißt du über diesen Ort? Wie kommen wir hier....", ich konnte den Satz nicht beenden, da von dem Bruchteil einer Sekunde zum nächsten ein riesiges, nicht näher definierbares schwarzes Etwas hinter ihr stand und sie in die Luft riss.
"DANIEELL!!!", schrie sie voller Angst. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also tat ich das erstbeste, das mir in den Sinn kam und versuchte dieses Wesen, welches gut doppelt so groß war wie ich, zu schlagen. Doch mein Schlag glitt hindurch, als würde dieses Ding keine feste Materie besitzen. Und trotzdem hielt es Daliah irgendwie in der Luft gefangen.
Das Wesen schrie auf. Aus direkter Nähe war es so laut, dass ich vor Schmerzen auf dem Boden zusammenbrach und selbst aufschrie, um irgendwie diesen Schmerz und diesen Lärm zu übertünchen. Der Boden zitterte unter mir, als würde das Gebäude einem Erdbeben zum Opfer fallen.
Anschließend bewegte sich diese Gestalt zur Treppe. Daliah rief um Hilfe, streckte ihre Hände in meine Richtung aus und sah mich voller Verzweiflung und Furcht an - ich war ihre einzige Chance.
Ich konnte nicht zulassen, dass dieses Monster meine beste Freundin verschleppte, ich musste irgendetwas tun, um sie zu befreien. Nichts wird mich davon abhalten. Dieses Vieh machte mir keine Angst. Dennoch wusste ich nicht, was ich tun sollte.
Für den Anfang zwang ich mich aufzustehen und während ich mich aufrappelte, konnte ich das Wesen, welches schon fast die Hälfte zur nächsten Etage zurückgelegt hatte, besser erkennen. Oder korrekterweise gesagt: schlechter erkennen. Denn dieses Biest hatte keine feste Form, es war, abgesehen von einem schmalen komplett schwarzem Zentrum, welches entfernt an eine Art Säule erinnerte, ein chaotisches Durcheinander aus schwarzen Linien und abstrakten Figuren. Nur ansatzweise hat man in der Summe dieser aufblitzenden und Umherschwirrenden Gestalten eine Art übergroße humanoide Silhouette erkennen könnten. Doch vielleicht war dies auch bloß meine Interpretation, da es nichts mit dem gemein hatte, was mir irgendwie bekannt war. Daliah sagte vor wenigen Momenten noch, es seien ihre Schatten. Vielleicht waren sie das tatsächlich. Eine auf irgendeiner Ebene physische Manifestation ihrer furchtbarsten Ängste und Erlebnisse.
Was auch immer dieses Schattengeschöpf nun auch sein mochte, ich musste es aufhalten. Also rannte ich ihm hinterher. 
"HILF MIR, DANIEL!!!", schrie Daliah unentwegt, als hätte sie Furcht, dass ich sie im Stich lassen würde. Doch sie müsste wissen, dass es nichts in allen Himmeln, Höllen und Erden gab, das mich daran hindern könnte alles in meiner Macht stehende zu tun, um sie aus den Klauen ihrer Schatten zu befreien.
Mir kam eine kleine Idee, wie ich sie dieser Monstrosität entreißen könnte. Als ich nahe genug war, setzte ich sie auch um.
Da sich das Schattenwesen weiter unter mir auf der Treppe befand, war Daliah in etwa auf meiner Höhe, ich musste nun nur noch einen zeitlich gut einkalkulierten Sprung machen, dann würde ich sie zumindest greifen können. Hoffentlich würde auch der Schwung, mit dem ich auf sie und ihre Schatten treffen würde, genügen, damit die Physik ihr nötiges tun würde, um das Wesen im besten Falle zum Stolpern zu bringen - sofern es das überhaupt konnte, da es nichts hatte, das Beinen ähnlich sah.
Der Moment war gekommen, ich sprang so kräftig ich konnte aus meinem Lauf heraus von meiner momentanen Treppenstufe nach vorne. Daliah streckte mir ihre Hände weiterhin entgegen und ich griff mit den meinen nach ihren Armen.  Es hatte funktioniert - wir hielten uns nun gegenseitig an den Armen fest! Oder zumindest funktionierte es soweit, dass ich nun im wahrsten Sinne des Wortes an ihr hing. Das Wesen blieb davon unbeeindruckt und ging einfach weiter die Treppe hinunter; weiter und weiter der Finsternis entgegen, aus der es zuvor gekrochen kam - es gab nicht einmal mehr diese grässlichen Laute von sich.
"Zieh mich raus!", forderte Daliah mich auf und brachte mich damit auf die Idee für meinen nächsten Befreiungsversuch. Ich schaukelte hin und her und versuchte dadurch Daliah aus dem dunklen Griff, in welchem sie gefangen war, herauszuzerren. Ihre Schatten interessierten sich dafür nicht. Sie hatten, was sie wollten, ihr Mahl, ihre Beute, ihr Opfer. Ich war ihnen vollkommen egal.
Wir verließen allmählich die beleuchteten Etagen und wurden nach und nach in Dunkelheit getaucht.
"Lass mich los! Rette dich", zwang Daliah sich dann über die Lippen. Ihre Hoffnung hatte sie mittlerweile aufgegeben. Wer weiß, wie lange sie schon an diesem Ort gefangen gewesen sein muss.
"Schon vergessen, wie stur ich bin? Niemals lasse ich dich hier einfach zurück!", entgegnete ich schnippisch, wenngleich die Situation dafür nicht angebracht war.
Ich gab mir mehr Mühe, schaukelte heftiger umher, versuchte Daliah noch kräftiger aus dem Griff zu ziehen. Ich blieb stur und gab nicht auf.
"Lass los!", sagte sie wieder und weinte dabei.
"Lass mich einfach los... Es ist okay!"
Ich wurde wütend und brüllte: "NIEMALS!!!" und als ob das Geschöpf mich nun ernst zu nehmen schien, blieb es stehen. Kurz darauf knallten Daliah und ich unsanft auf die Treppe. Das Wesen hatte offenbar freiwillig seinen Griff gelöst. Nur wenige Sekunden verharrte ich auf der Treppe sitzend und blickte dem Wesen entgegen, um darauf vorbereitet zu sein, was auch immer nun folgen mochte.
Aufgrund des sehr schwachen Lichts konnte ich kaum etwas erkennen, doch eines sah ich, seine Form veränderte sich offenbar; das Wesen schien sich zu mir vorzubeugen. Ich ahnte böses und zischte, ohne meinen Blick von der Schattengestalt abzuwenden, zu Daliah: "Lauf! Daliah! Lauf! LAUF!"
Gesagt, getan. Daliah zögerte nicht einen Moment und eilte erneut die Treppen hinauf. Ob sich ihre Schatten dessen gewahr waren, konnte ich nur mutmaßen, sie schienen sich auf mich zu konzentrieren.
Plötzlich zischte etwas durch die Luft, und ehe ich mich versah spürte ich einen tiefen stechenden Schmerz in meiner linken Schulter. Ich schrie auf. Irgendetwas scharfes und spitzes bohrte sich hindurch. Doch es war nicht nur der stechende Schmerz, der meine Sinne flutete, ich spürte, wie sich etwas um mein Herz wickelte und es langsam immer stärker zusammendrückte. Es fühlte sich an, als würde ich in meinem Innersten zerquetscht werden. Ich versuchte nach dem Ding zu greifen, welches sich in meine Schulter gebohrt hatte, doch ich griff nur wieder folgenlos durch die Luft hindurch. Das Wesen war offenbar in der Lage mit der Materie seiner Umwelt nach seinem eigenen Belieben zu interagieren. Das machte es ungemein mächtig und ich wusste nicht, welches Mittel dagegen eine Wirkung zeigen würde.
Daliah vernahm offensichtlich meinen Schrei, denn ich hörte sie von weitem zurufen: "NEIN!!! DANIEL!!!", die Sorge um mein Wohlergehen und die Angst vor dem, was noch kommen könnte, schwangen unüberhörbar in ihrer Stimme mit.
Dies war der Lockruf, die süße Beute, nach der ihre Schatten gierten. Wie ein ausgehungertes Tier ließ es augenblicklich von mir ab, löste das Instrument, oder was auch immer es war, das mich durchbohrt hatte und mein Herz zerdrückte, und eilte die Stufen hinauf zu Daliah. Allmählich verstand ich, was dieses Wesen wollte und das konnte ich mir zum Vorteil machen.
Erlöst von dieser Pein atmete ich auf, doch wieder durfte ich jetzt nicht nachlassen. Jede Sekunde zählte. Ich habe Daliah grade erst befreien können, ich durfte keinesfalls zulassen sie wieder in die Fänge ihrer Schatten geraten zu lassen. Meine Schulter blutete und schmerzte, ich ignorierte es und rannte mit dem letzten Rest der mir verbliebenen Kräfte die Treppe hinauf, dem Monster hinterher. Doch es war schneller als ich.
Aus der Ferne sah ich, wie Daliah weiter nach oben flüchtete, die Schatten bereits dicht hinter ihr. Ich verlor zu viel Blut, mir wurde allmählich schwindelig. Die Anstrengung und diese Verletzung, der Stress und dieser Terror, das war zu viel auf einmal. Doch ich musste es weiter versuchen. Ich musste weiterkämpfen. Ich durfte einfach nicht aufgeben. Selbst wenn es mein Leben kosten sollte, so würde ich alles tun, um sie zu retten.
Sobald ich wieder in die Reichweite des trüben Fensterlichts kam, sah ich, wie stark ich blutete. Es floss schon fast in Strömen hinunter und verlieh dem blassen und trockenen dunkelgraubraunen Holz ein wenig Farbe, ein wenig von meinem Leben.

"Nur noch ein paar Stufen. Komm schon, Daniel, du schaffst das!", redete ich mir ein und ich hatte eine Idee, wie ich Daliah ein für alle Mal von diesem Grauen befreien konnte. Mein Leben war ohnehin schon verwirkt. Eine letzte gute Tat, für den letzten guten Menschen.

Endlich erreichte ich die oberste Etage wieder. Das Monster stand dicht vor Daliah, sie wiederum mit dem Rücken an der Tür kauernd. Mich gerade noch bei Bewusstsein haltend rief ich dem Schattengeschöpf entgegen: "Hey! Ich weiß, was du willst. Ich weiß, wonach du dich sehnst. Ich weiß, wovon du lebst und ich kann es dir geben. Nimm mich an ihrer Stelle!"
Auch wenn diese Figur aus zerfließenden und wild umherzuckenden Schatten nicht wirklich feste Merkmale hatte, schien ich seine Aufmerksamkeit erregt zu haben, da es wirkte, als würde es sich mir zuwenden. Daliah versuchte mich aufzuhalten: "Nein! Tu das nicht!", flehte sie mich an. Doch ich sprach unbeirrt weiter: "Du nährst dich von grausamen Ängsten. Du labst dich an emotionalem Leid. Das ist doch richtig, oder? Ich kann dir all das geben. Und ich würde mich nichtmal wehren."
Das Wesen näherte sich mir.
Ich fuhr fort: "Ich weiß nicht, wozu du fähig bist, ich weiß eigentlich nichts über dich. Aber vielleicht hast du vorhin, als du mich töten wolltest, gesehen, oder gar gespürt, was in mir steckt. Willst du darauf wirklich verzichten?"
Ich ging solange zurück, bis ich mit meinem Rücken die Brüstung berührte. Das übermenschlich riesige Geschöpf näherte sich mir weiterhin.
"Lass Daliah frei und ich bin dein."
"Nicht, Daniel!", bat mich Daliah aus dem Hintergrund rufend.
Plötzlich hörte man erst ein Klacken, dann ein Knarzen und ich konnte sehen, wie die Tür hinter Daliah sich öffnete; sie bemerkte es ebenfalls. Den Raum dahinter konnte ich nicht erkennen, denn alles hinter der Tür erstrahlte in blendend weißem Licht. Doch es konnte nur eines bedeuten: Freiheit.
"Gut", sagte ich entspannt. "Dann hol mich!"
Mit diesen Worten hob ich mich über die Brüstung und ließ mich in die Dunkelheit fallen. Das Schattenwesen schrie wieder auf und sprang hinterher, doch mir war es mittlerweile egal, dass meine Ohren schmerzten. Daliah war in Sicherheit. Das war alles, was für mich zählte.
Ich sah noch, wie Daliah über die Brüstung hinweg ihre Hand nach mir ausstreckte und ich vermute, dass sie "NEIIIN!!!" geschrien hatte, doch ich konnte es aufgrund des ohrenbetäubenden Gebrülls des Ungetüms nicht wirklich hören. Was ich jedoch ganz klar sah, waren die Tränen, die sie verlor. Ich versuchte ihr ein letztes Lächeln zu schenken. 

"Sei nicht traurig, Daliah.", sagte ich in Gedanken, "Wir werden uns wiedersehen. Eines Tages, irgendwie und irgendwo."

Ich spürte deutlich die Luft an mir vorbeiströmen, während ich in die Finsternis herabfiel. Es war ein schönes Gefühl. Und nach einer Weile war ich bereits so tief durch das Treppenhaus hindurchgefallen, dass die beleuchteten Etagen nicht länger mehr waren als ein kleiner, schwacher, aber lichter Punkt weit, weit über mir, der sogleich auch vom Schattengeschöpf verschlungen worden ist.
Ihre Schatten waren nun die meinen.
Und dann, dann wachte ich auf.


~ Lupus Terre



Montag, 6. Juli 2015

Der Namenlose IV ~ Verwesendes Verlangen

Ihr kopfloser Körper. Da ist er.
Nackt, das Fleisch teilweise herausgerissen, sodass man Knochen und gar verwesende Organe erkennen kann, mit blutigen verdreckten Flecken bespickt, ohne Verstand und doch befähigt zu laufen. Und er zwängt sich durch den mit Schädeln übersähten Boden geradewegs zu mir hindurch.
Hier bin ich nun, auf einem Stuhl sitzend, mitten in der schwarzen, kalten Unendlichkeit, mit einem Meer aus abgeschlagenen menschlichen Häuptern unter mir und dunkelrotem Licht, das mich von Oben umhüllt. Ich sitze da, nicht in der Verfassung auch nur eines dieser Gräuel wirklich verarbeiten zu können, und warte darauf, dass der junge, verstümmelte Körper der Frau mit schwarzen Haaren zu mir gelangt. Was könnte ich denn ohnehin schon tun, um diesem Alptraum zu entfliehen? Ich bin hier allein und gefangen. Gefangen in der Dunkelheit.
Es wirkt unbeholfen, wie der junge, geschundene Leib immer wieder einknickt, wenn er mit seinem Fuß auf einem der zahllosen Köpfen ausrutscht.
Nachdem er seinen Weg gefunden und beschritten hat, bleibt er zwei Schritte vor mir stehen. Der schlanke Körper dieser jungen Frau ist nun direkt vor mir und ich muss mich fast übergeben, bei dem, was ich wahrnehme.
Zu ihrer Rechten wurde ihr die Haut und unterliegendes Fleisch von einem Teil der Brust gerissen, sodass ich ihre Rippen mit bloßem Auge zählen könnte. Dahinter verbirgt sich ein dunkles, faulendes Organ, welches wohl einst die Lunge gewesen sein muss.
Was mich jedoch am meisten anwidert, ist ihr Unterleib, aus dem ihr Gedärm gerissen worden ist und nun frei aus der Bauchhöhle hängend bei jeder Bewegung umherschwingt. Gerade der davon ausgehende widerwärtige Gestank, der sich durch die kalte Luft hindurch in meine Nase zwängt, treibt mir den Inhalt meines Magens in die Kehle.
Trotz meines Dranges diesem Ort und vor allem der Nähe dieses vor mir stehenden Leichnams zu entfliehen, begreife und akzeptiere ich nach und nach die Ausweglosigkeit meiner Situation und beschließe der Bitte der jungen Frau nachzukommen. Also strecke ich ihren Kopf, der sich immer noch in meinen Händen befindet, ihrem Körper entgegen, in der Hoffnung, er würde ihn an sich nehmen.
Und tatsächlich, obwohl ihr Leib erst regungslos vor mir stand, reagiert er auf meine Geste und greift mit seiner linken Hand nach dem Schädel. Doch entgegen meiner Erwartung, dass er diesen sanft und mit Obacht wieder an sich nehmen würde, verfestigt er seine Finger lediglich um die kurzen schwarzen Haare und zerrt ihn daraufhin grob an sich.
Ihr Arm führt ihren Kopf nun in Richtung ihres Oberkörpers, bis er seine Bewegung unterbricht, als ihr Haupt mit ihrem Gesicht mir zugewandt in etwa auf der Höhe ihrer Schultern stoppt.
Immer noch an den Haaren haltend, baumelt ihr Schädel nun in der Luft. Ein wirklich überaus groteskes Bild, wie der Leichnam mit blutigem Stumpf an der Stelle, an der einst sein Kopf saß, diesen in einer Hand vor sich hält.
Ich blicke in ihrem Gesicht den mit dem schwarzen Stacheldraht zugenähten Augen entgegen und erwarte, dass nun wieder etwas geschieht, das ich nicht erwarte und das mich mehr traumatisiert als all die anderen Schrecken hier. Und tatsächlich zucke ich auf, als ihre vormals toten und zerschlissenen Lippen erneut beginnen sich zu bewegen.
Es ertönt erst ein ermüdetes, ächzendes Stöhnen, ehe ich den Klang von Worten vernehme:
"Danke... Das... wird dir... vergolten...", es scheint große Anstrengung zu kosten in solch einem Zustand zu sprechen. Verstörend genug, dass dies überhaupt möglich zu sein scheint.
Ehe ich jedoch etwas antworten kann, spricht sie weiter:
"Magst du mich?", allmählich wirkt ihre Stimme klarer, da sie deutlicher, lauter und kräftiger wird, als ob man einen Teil ihres Lebens wieder in sie hineingehaucht hätte.
Ich antworte auf diese Frage offen und ehrlich: "Ich kenne dich nicht. Ich weiß es daher nicht."
Mir bleibt verschleiert, weshalb sie solch eine Frage stellt, doch was soll ich denn anderes tun, als darauf zu antworten?
"Du hast gesagt, du liebst meine grünen Augen.", waren ihre nächsten Worte.
Mein Blick fokussiert sich auf ihre schmerzhaft vernähten Lider. Eine Augenfarbe kann ich durch dieses Bild Stahl durchzogenen Fleisches nicht erkennen. Sie scheint mich für jemanden zu halten, der ich nicht bin.
"Ich verstehe nicht, wovon du sprichst! Das habe ich nie gesagt. Der, für den du mich anscheinend hältst, bin ich nicht!", entgegne ich ihr.
Daraufhin ertönt ein amüsiertes Kichern.
"Wer bist du denn dann?"
Plötzlich zerren ihre Augenlider wieder an dem Draht und versuchen sich zu befreien. Weitaus kräftiger, als es möglich sein sollte, schaffen sie es auch und ihr Fleisch reisst sich mit brachialer Gewalt durch die mit spitzen Stacheln übersähten groben Drähte. Dabei zerfetzen weite Teile der Haut, welche sodann wie in Schnipsel zerschnittene feuchte Lappenfetzen zu Boden fallen.
Nur einen einzigen Blick kann ich auf das werfen, was sich dahinter verbirgt.
Schwarze, feuchte Bruchstücke, die in ihren Augenhöhlen liegen wie kleine Kohlebrocken, und nicht menschliche Augen mit grüner Iris, sind das, was ich zu sehen bekomme.
Erheitert klang ihre Stimme, als sie mit ihren wortwörtlich aufgerissenen Augen und einem Lächeln im Gesicht fragte: "Wer bist du?"
Dann wieder Dunkelheit. Das rote Licht erlosch und Stille kehrte instantan ein.
Doch die Stille währte kaum einen einzigen Moment, da sie nun durch eine Art kurzes mechanisches Klacken unterbrochen wird. Zeitgleich spüre ich, wie meine Arme auf unerwartet auftauchende Armlehnen des Stuhles gepresst werden. Ich versuche sie zu bewegen, doch werde durch Schellen daran gehindert. Ebenso sind meine Beine jetzt am Stuhl gefesselt. Dies ist wohl der Ursprung des Geräusches gewesen.
Panik macht sich wieder in mir breit. Wird mir nach all diesem psychischen Terror nun auch körperliches Leid widerfahren?
Ich strenge mich mit der gesamten Kraft meines Körpers an, um aus den Fesseln zu brechen. Jedoch erzielt mein wildes, planloses Umherzappeln nicht das Geringste. Ich schaffe es nicht einmal den Stuhl zum Kippen zu bewegen. Es scheint, als wäre er fest im Boden verankert.
Meine Atmung ist erhöht, trotz allem kämpfe ich und versuche mich zu befreien.
Nach einer Weile jedoch erliege ich der Anstrengung und gebe auf. Es gibt kein Entkommen.
Während ich die eisige Luft tief ein und ausatme und versuche mich zu beruhigen, um zumindest im Ansatz wieder einen klaren Kopf zu erlangen, bemerke ich, wie erneut ein Kegel aus Licht mich umhüllt. Diesmal jedoch schaltet er nicht ruckartig ein, sondern wird nach und nach heller. Auch die Farbe hat sich geändert. Es ist nicht mehr das Rot des Blutes, sondern ein reines weißes Licht, welches mich nach und nach stärker von oben herab beleuchtet.
Um einen Überblick über mein endloses Gefängnis zu erhalten, erhoffe ich mir einen Hinweis aus der Lichtquelle, weshalb ich nach oben blicke. Jedoch kann ich nichts erkennen, stattdessen schmerzen meine Augen aufgrund der Blendung.
Das Licht hört rasch auf heller zu werden und verharrt bei einer gleich bleibenden Intensität. Es ist heller, als das rote Licht, aber nach wie vor nicht hell genug, um diese ewige Finsternis zu durchbrechen.
Als ich jedoch auf den Boden schaue, fällt mir sofort eines auf: Die Köpfe sind fort!
Kein einziger der Schädel ist mehr zu sehen, nicht einmal irgendwelche Spuren, wie Blut, sind zu erkennen. Nur ein weißer Kreis, der durch die Beleuchtung entsteht, bildet sich auf dem Grund und hebt sich vom Rest dieses Ortes scharf ab.
Weiterhin kann ich jedoch keine Möglichkeit erkennen mich aus den Schellen dieses hölzernen Stuhles zu befreien.
Ich blicke mich um und versuche die junge schwarzhaarige Frau zu finden. Kurz darauf spüre ich plötzlich wie sich etwas feuchtes, leicht schleimiges aber weiches und warmes von der linken Seite meines Halses an zu meiner Wange zieht. Zunächst erstarre ich, wage nicht mich zu bewegen und bekomme eine Gänsehaut bei diesem unerwarteten Gefühl unbekannter Herkunft. Es läuft mir kalt den Rücken hinab, ich weiß nicht, wie ich mich jetzt verhalten soll. Dann höre ich jemanden an meinem linken Ohr leicht durch den Mund ausatmen.
Schlagartig weiche ich mit meinem Oberkörper nach rechts und wende mein Haupt zur anderen Seite, um zu sehen, wer oder was dafür verantwortlich ist.
Da steht sie, die junge schwarzhaarige Frau, splitterfasernackt neben mir und lacht belustigt - vermutlich aufgrund meiner Reaktion. Sofort fällt mir auf, dass sie sich verändert hat. Ihr Kopf war wieder an seinem dafür vorgesehenem Platz an ihrem Körper, mit dem Unterschied, dass Schädel und Hals mit der selben Art schwarzem Stacheldraht zusammengenäht waren, wie einst nur ihr Mund und ihre Lider. Überdies war ihr Körper nahezu unversehrt. Abgesehen von den nun längeren schwarzen Haaren und davon, dass sie verdreckt war, als hätte sie erst in Schlamm gebadet und wäre dann mit Asche durchsetztem Wasser überströmt worden, gab es sonst kein Merkmal körperlicher Schäden an ihr.
Auch ihre Augen und ihr Mund waren verheilt und ich konnte im weißen Licht nun tatsächlich ihre grünen Augen erkennen.
Der stählerne Draht an ihrem Hals war daher die einzige ungesunde Auffälligkeit.
"Was erschreckst du dich so? Du magst das doch!", sagte sie erheitert. Überfordert mit der Situation, nicht in der Lage nachzuvollziehen, nach welchen Gesetzen diese finstere Hölle funktioniert, stammle ich eine Antwort: "Ich äh... ich... was... äh... W-w-wer bist du?"
"Wer ich bin? Oh, mein Lieber, das weißt du doch ganz genau!", in ihrer Stimme schwang etwas lüsternes mit. Es hatte einen verführerischen Klang und sie warf mir einen derartigen Blick zu als würden wir uns seit Jahren kennen und als müsste gerade ich vor allen anderen auf dieser Welt wissen, wer diese Frau ist. Doch egal, wie ich vom Wahnsinn getrieben auch mein Gedächtnis durchforste, mir will partout nicht in den Sinn kommen, wer sie ist, oder sein könnte. Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.
Gemächlich umkreist sie mich und scheut sich dabei nicht mir ihre physischen Reize zu präsentieren, bis sie hinter mir ist und ihre Arme sanft um meinen Hals auf meine Schultern legt. Zugegeben, allmählich sorgt diese Behandlung sogar für ein Wohlgefühl. Verglichen mit den Alpträumen, die ich bis hierher erlebt habe, ist dies mehr als Willkommen. Aber ich muss vorsichtig bleiben und muss versuchen zu widerstehen. Wer weiß, was mich noch erwartet.
"Lass mich los!", fordere ich sie also energisch auf.
Ein langer und sanfter Kuss in meinen Nacken ist jedoch ihre Reaktion. Ein wirklich schönes und angenehmes Gefühl, aber ich darf mich dieser Verlockung nicht hingeben! Was wäre ich, würde ich in so einer Situation solche Ablenkungen zulassen?
Nun werde ich wutentbrannter: "Hör' auf! Das ist doch krank! Lass mich gehen!"
Endlich löst sie sich von mir, bewegt sich wieder vor mich und beugt sich mir entgegen.
"Gehen?", fragt sie mit einem eindringlichen und traurig wirkenden Blick, "Wohin denn gehen?"
"Ich will einfach nur hier weg!"
Mit einem Mal weicht sie ruckartig mehrere Schritte von mir zurück, fast schon so weit, dass sie aus dem Lichtkegel verschwindet. Sie wirkt enttäuscht.
"Du willst weg? Du willst mich also verlassen?", sie verdeckt mit einer Hand ihre Augen.
"SCHON WIEDER???", brüllt sie plötzlich aus aller Tiefe ihrer mit Stacheldraht vernähten Kehle, nimmt ihre Hand wieder fort und starrt mich hasserfüllt an. Blitzartig schlägt diese Szenerie wieder in die Hölle um, die ich vorher erlebt hatte, als hätte man einen Schalter umgelegt. Das Licht flutet wie vorher blutrot von oben auf mich und meine unmittelbare Umgebung herab und beleuchtet ebenfalls das wieder aufgetauchte Meer aus Köpfen unter mir.
Die junge Frau, die vormals einen noch halbwegs ansehnlichen Eindruck erweckte, ist erneut so unaussprechlich verstümmelt und ihre linke Hand hat ihren Kopf so an den Haaren gepackt im Griff wie vormals auch.
Kaum werde ich mir diesem schlagartigen Wechsel gewahr, macht sie einen Satz und rennt mit einem ohrenbetäubenden Kreischen auf mich zu. Könnte ich doch bloß meine Hände befreien!
Mit großer Wucht stößt sie gegen mich und kippt damit den Stuhl, von dem ich geglaubt hatte, er wäre im Boden fest verankert, rückwärtig hinein in das Schädelmeer.
Dann beißt sich ihr Kopf in meine rechte Wange. Ihr Biss ist stark und erbarmungslos. Ich schreie auf vor Schmerz, ich versuche zeitgleich mich zu befreien, ich bebe vor Angst, ich will einfach von hier fort! Was habe ich verbrochen, um das zu verdienen?
Nur am Rande bemerke ich, wie all die Köpfe um mich herum allmählich zum Leben erwachen und sich zu mir hin bewegen, während ich darum kämpfe mich zu befreien und sie mit ihrem festen Biss von mir abzuschütteln. Kein Erfolg, es ist hoffnungslos. Erneut schreie ich gequält auf. Grässliche Schmerzen überfluten meine Sinne. Ich sehe und spüre, wie all die unzähligen Köpfe mir das Fleisch von den Knochen reißen und mich nach und nach unter ihnen begraben. Sie beißen mir in die Beine, in die Arme, in mein Gesicht, meine Ohren, Finger, Zehen, Bauch, Rücken. Von allen Stellen meines Körpers spüre ich, wie sich menschliche Zähne in mein Fleisch bohren und es mit brachialer Gewalt hinausreißen. Ich werde bei lebendigem Leibe gefressen! Ich kann nicht mehr atmen, nicht mehr schreien und spüre nur noch einen Schmerz, wie ich ihn nie zuvor erlebt habe, ehe alles um mich herum verblasst und ich mein Bewusstsein allmählich verliere.
Ist dies nun mein Ende?





by
Lupus Terre