Schwach war das Licht, das durch die farblosen, großen Fenster von der mir gegenüberliegenden Seite dieses Raumes hindurch schien. Vielleicht lag es an diesem düsteren Licht, dass die hölzernen Strukturen um mich herum fahl und fast schon grau statt dunkelbraun wirkten. Hinter mir war eine ebenso hölzerne Tür, die teilweise im Schatten lag. Ich machte einige Schritte nach vorn zur ebenso fahlen und hölzernen Brüstung, um mich an diesem Ort umzusehen. Anscheinend befand ich mich am obersten Ende eines Treppenhauses mit unnötig großzügigen Ausmaßen. Der Raum war rechteckig. Vier kahle, graue Betonwände, eine offenbar mit Holz verkleidete Decke und eine hölzerne Treppe, die so tief hinunterführte, dass das Licht der wenigen Fenster auf meiner Etage nicht ausreichte, um den Boden zu erreichen. Es wirkte, als würde diese Treppe in eine schier endlose Finsternis hinabführen.
Verglichen mit der Breite der Treppe, die von meiner rechten Seite beginnend spiralförmig an den Wänden entlang hinunter in die Dunkelheit führte, war der Zwischenraum in der Mitte dieses Treppenhauses fast schon unnötig riesig. Erschreckend riesig; ich fragte mich, weshalb dem so war.
Außer mir, war hier offenbar niemand. Da ich nicht wusste, was mich am unteren Ende der Treppe erwarten würde, kehrte ich zu der Tür hinter mir zurück, und hoffte durch sie einen Ausweg aus diesem Raum zu finden. Doch sie schien fest verschlossen zu sein. Ich sah keine Möglichkeit sie zu öffnen.
Dann hallte auf einmal der schrille Schrei einer Frau durch das Treppenhaus. Überrascht zuckte ich zusammen, eine Gänsehaut durchfuhr mich - damit hatte ich hier nicht gerechnet.
Ich eilte unverzüglich wieder zu der Brüstung, an der ich vorher stand, und suchte die Treppen nach dem Anzeichen einer Person ab. Plötzlich der nächste Schrei: "HILFE!!!", echote ihr Ruf über die graubraunen Stufen hinweg.
Da ich sie nirgends sehen konnte, musste sie weitaus tiefer im Treppenhaus sein. Höchstwahrscheinlich war sie irgendwo in der Finsternis verborgen. Also rannte ich die Treppe entlang hinunter, so schnell ich konnte, in der Hoffnung, dass meine Hilfe sie nicht zu spät erreichen würde.
Auch der dumpfe Klang der Holzstufen hallte durch den Raum, während ich trotz meiner Eile darauf bedacht war keinen Schritt derart falsch zu setzen, alsdass ich stürzen und mich verletzen würde.
Immer und immer wieder schrie sie auf, schrie nach Hilfe, fragte, warum denn keiner da sei, sie verdammte das Leben und die Welt. Sie schien vor etwas zu fliehen. Große Furcht schwang in ihrer Stimme mit. Oder war es Verzweiflung? Vielleicht war es sogar beides.
Ich rannte so schnell ich konnte. Das Licht um mich herum schwand nach und nach. Mit jedem weiteren Schritt auf dieser elend langen Treppe wurde es dunkler, farbloser, lichtloser, lebloser.
Irgendwann war ich komplett von Dunkelheit umhüllt, ich konnte nur noch erahnen, wo sich Stufen befanden, sie jedoch nicht sehen. Mein Tempo verlangsamte sich dementsprechend. Ein Glück, dass ich näher zu kommen schien. Ihre Stimme wurde lauter und deutlicher. Nur noch ein kleines Stück, dann wäre ich soweit, dass ich ihre Position bestimmen könnte.
Kaum zu Atem kommend rief ich ihr zu: "Halte durch! Ich bin gleich da! Ich komme dir zu Hilfe!".
Wieder ertönte ein Schrei,- markerschütternd; und der Boden bebte, es klang nicht mehr menschlich. Der Schrei kam nicht von ihr. Jemand - oder etwas - anderes stieß dieses grässliche Gebrüll aus. Ein bedrohlicher und verzerrter Klang, wie der eines Ungetüms. Der Aufschrei eines Jägers, welcher seine Beute aus dem Versteck schrecken will.
"BEEIL DICH!!!", rief sie so panisch, so voller Furcht und traumatisiertem Beben in ihrer Stimme, als würde sie kurz davor stehen ihr Leben zu verlieren.
"Verflucht!", dachte ich mir, "wieso muss es hier so dunkel sein?!". Doch ich schien bereits ganz nah bei ihr zu sein.
"Wo bist du?", fragte ich laut.
"Hier!", ertönte es kaum noch einige Schritte von mir entfernt. Ich stoppte und streckte meine Hände aus, um sie zu ertasten.
"Komm zu mir!", forderte ich sie auf, "Folge dem Klang meiner Stimme! Ich werde dich hier raus holen."
Wenig später stieß mein rechter Arm grob gegen sie. Ich ertastete sie rasch, fand ihre Schulter und nahm danach ihre Hand fest in die meine, als plötzlich wieder dieser grässliche Schrei ertönte. Meine Ohren schmerzten stark, es fühlte sich an, als würden sich tausende Nadeln durch meine Gehörgänge bohren.
"Wir müssen hier weg!", wimmerte sie und klang verstört und verheult.
Ich kommentierte lediglich: "Beeilen wir uns!", und zerrte sie hinter mir die Treppen hinauf, so schnell wie wir gemeinsam konnten.
Je weiter wir kamen, desto öfter und grässlicher schrie dieses Biest durch die Finsternis. Glücklicherweise hatten wir jedoch Erfolg damit die Distanz zwischen uns und diesem undefinierbaren Etwas zu vergrößern.
Ich wusste nicht mehr, wie viele Etagen ich hinuntergerannt sein muss, doch beim Aufstieg spürte ich besonders in meinen Beinen, dass es viele gewesen sein müssen. Es war beschwerlich, selbst all das Adrenalin, das durch unsere Adern pumpte, war nicht genug, um uns genug Kraft zu geben, sodass wir das Tempo hätten beibehalten können. Wir ermüdeten und wurden langsamer. Aber wissend, dass das Biest irgendwo hinter uns im Schatten verborgen war und uns verfolgte, stand für uns eindeutig fest, dass wir keine einzige Verschnaufpause einlegen durften. Wir rannten weiter, zwangen uns, und wenn wir kurzzeitig langsamer wurden, rafften wir uns spätestens beim nächsten ohrenzerreissenden Schrei zusammen, um uns weiter zu beeilen.
Nach einer Weile des unermüdlichen Rennens sahen wir auch allmählich das Licht wiederkehren. Wir waren noch gut ein halbes Dutzend Etagen von der obersten entfernt.
Erst jetzt wurde mir eines klar: Die Tür ganz oben war verschlossen. Selbst wenn wir sie erreichen würden, mussten wir sie rechtzeitig öffnen können, damit uns dieses dämonische Wesen nicht in seine Klauen bekam.
Und selbst wenn wir sie aufbekommen sollten, wer weiß, was uns dahinter erwartet?
Diese Tür war unsere einzige Chance.
Alsbald wir oben angekommen waren, teilte ich ihr hastig mit: "Schnell, da zur Tür!", und versuchte die Tür irgendwie aufzubekommen, ohne auch nur einen Blick davon abzuwenden, während die Frau hinter mir irgendwo an der Seite stehen blieb und die Gelegenheit dazu nutze ihren Atem zu erholen.
Ich betätigte unterdessen wie ein Wahnsinniger die Klinke, nahm Anlauf und versuchte diese Holztür aufzurammen, ich versuchte sie aufzutreten, ich probierte alles aus, was mir in den Sinn kam. Doch nichts funktionierte. Dieses verdammte Ding wollte sich einfach nicht öffnen lassen.
Erst, als ich aufgeben wollte, ist mir bewusst geworden, dass gewiss bereits einige Minuten vergangen sein mussten und seit unserer Ankunft auf dieser Ebene kein einziger Schrei mehr zu vernehmen war.
Um mich zu vergerwissern hielt ich inne und horchte. Kein Geschrei, kein Beben. Nur das schwere Atmen der Frau und mir.
Ich drehte mich zu ihr um und sah sie nun zum ersten Mal im - wenngleich trüben - Licht. Sie wirkte jung und hatte etwa schulterlange rötliche Haare, ein helles und vor Schrecken blasses und schmales Gesicht. Ihre Augen konnte ich nicht genau erkennen, doch alles in allem kam mir diese Person vertraut vor. Ich kannte sie. Es war Daliah, meine beste Freundin.
"Daliah? Bist du es?", wollte ich sicherstellen.
Sie richtete ihren Blick auf mich und antwortete - immer noch voller Erschöpfung und noch nicht ganz zu Atem gekommen: "Ja, ich bin es. Danke, dass du mich da herausgeholt hast!"
"Was ist das hier für ein Ort und woher stammte dieses kranke Geschrei? Denkst du, es ist fort?"
"Ich weiß nicht, wo wir sind. Und nein, sie sind nicht fort, sie kommen bald wieder."
"Sie?", hakte ich verwundert nach, "Wer sind sie?".
"Die Schatten", und ehe ich erneut nachfragen konnte fuhr sie fort: "Meine Schatten."
Allmählich zeichnete die Angst wieder ihr Gesicht.
"Oh nein... oh nein nein nein nein!", stammelte sie immer unruhiger werdend.
"Wir müssen hier weg! Wir müssen auf jeden Fall hier weg! Sie kommen sonst wieder. Und ich will nicht, dass sie kommen!", Tränen flossen über ihre Wangen und sie begann nervös hin und her zu laufen. Derart am Ende ihrer Nerven habe ich sie noch nie erlebt. In der Hoffnung sie beruhigen zu können und gemeinsam mit ihr einen Ausweg zu finden, machte ich einen Schritt auf sie zu, packte sie fest an den Schultern und blickte ihr in die Augen.
"Daliah!", sprach ich sie mit einem strengen Tonfall an, "Schau mir in die Augen! Sieh mich an!", sie folgte meiner Aufforderung, wenngleich es wohl Mühe zu kosten schien; sie war kaum noch bei Sinnen.
"Ich bin hier. Okay? Ich bin hier und bin für dich da! Zusammen werden wir das schon schaffen! Du bist nicht alleine! Ich werde dich beschützen! Hast du mich verstanden?"
Sie sammelte sich wieder ein wenig und antwortete: "Ja... ja."
"Gut! Versuch dich jetzt zu konzentrieren. Was weißt du über diesen Ort? Wie kommen wir hier....", ich konnte den Satz nicht beenden, da von dem Bruchteil einer Sekunde zum nächsten ein riesiges, nicht näher definierbares schwarzes Etwas hinter ihr stand und sie in die Luft riss.
"DANIEELL!!!", schrie sie voller Angst. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also tat ich das erstbeste, das mir in den Sinn kam und versuchte dieses Wesen, welches gut doppelt so groß war wie ich, zu schlagen. Doch mein Schlag glitt hindurch, als würde dieses Ding keine feste Materie besitzen. Und trotzdem hielt es Daliah irgendwie in der Luft gefangen.
Das Wesen schrie auf. Aus direkter Nähe war es so laut, dass ich vor Schmerzen auf dem Boden zusammenbrach und selbst aufschrie, um irgendwie diesen Schmerz und diesen Lärm zu übertünchen. Der Boden zitterte unter mir, als würde das Gebäude einem Erdbeben zum Opfer fallen.
Anschließend bewegte sich diese Gestalt zur Treppe. Daliah rief um Hilfe, streckte ihre Hände in meine Richtung aus und sah mich voller Verzweiflung und Furcht an - ich war ihre einzige Chance.
Ich konnte nicht zulassen, dass dieses Monster meine beste Freundin verschleppte, ich musste irgendetwas tun, um sie zu befreien. Nichts wird mich davon abhalten. Dieses Vieh machte mir keine Angst. Dennoch wusste ich nicht, was ich tun sollte.
Für den Anfang zwang ich mich aufzustehen und während ich mich aufrappelte, konnte ich das Wesen, welches schon fast die Hälfte zur nächsten Etage zurückgelegt hatte, besser erkennen. Oder korrekterweise gesagt: schlechter erkennen. Denn dieses Biest hatte keine feste Form, es war, abgesehen von einem schmalen komplett schwarzem Zentrum, welches entfernt an eine Art Säule erinnerte, ein chaotisches Durcheinander aus schwarzen Linien und abstrakten Figuren. Nur ansatzweise hat man in der Summe dieser aufblitzenden und Umherschwirrenden Gestalten eine Art übergroße humanoide Silhouette erkennen könnten. Doch vielleicht war dies auch bloß meine Interpretation, da es nichts mit dem gemein hatte, was mir irgendwie bekannt war. Daliah sagte vor wenigen Momenten noch, es seien ihre Schatten. Vielleicht waren sie das tatsächlich. Eine auf irgendeiner Ebene physische Manifestation ihrer furchtbarsten Ängste und Erlebnisse.
Was auch immer dieses Schattengeschöpf nun auch sein mochte, ich musste es aufhalten. Also rannte ich ihm hinterher.
"HILF MIR, DANIEL!!!", schrie Daliah unentwegt, als hätte sie Furcht, dass ich sie im Stich lassen würde. Doch sie müsste wissen, dass es nichts in allen Himmeln, Höllen und Erden gab, das mich daran hindern könnte alles in meiner Macht stehende zu tun, um sie aus den Klauen ihrer Schatten zu befreien.
Mir kam eine kleine Idee, wie ich sie dieser Monstrosität entreißen könnte. Als ich nahe genug war, setzte ich sie auch um.
Da sich das Schattenwesen weiter unter mir auf der Treppe befand, war Daliah in etwa auf meiner Höhe, ich musste nun nur noch einen zeitlich gut einkalkulierten Sprung machen, dann würde ich sie zumindest greifen können. Hoffentlich würde auch der Schwung, mit dem ich auf sie und ihre Schatten treffen würde, genügen, damit die Physik ihr nötiges tun würde, um das Wesen im besten Falle zum Stolpern zu bringen - sofern es das überhaupt konnte, da es nichts hatte, das Beinen ähnlich sah.
Der Moment war gekommen, ich sprang so kräftig ich konnte aus meinem Lauf heraus von meiner momentanen Treppenstufe nach vorne. Daliah streckte mir ihre Hände weiterhin entgegen und ich griff mit den meinen nach ihren Armen. Es hatte funktioniert - wir hielten uns nun gegenseitig an den Armen fest! Oder zumindest funktionierte es soweit, dass ich nun im wahrsten Sinne des Wortes an ihr hing. Das Wesen blieb davon unbeeindruckt und ging einfach weiter die Treppe hinunter; weiter und weiter der Finsternis entgegen, aus der es zuvor gekrochen kam - es gab nicht einmal mehr diese grässlichen Laute von sich.
"Zieh mich raus!", forderte Daliah mich auf und brachte mich damit auf die Idee für meinen nächsten Befreiungsversuch. Ich schaukelte hin und her und versuchte dadurch Daliah aus dem dunklen Griff, in welchem sie gefangen war, herauszuzerren. Ihre Schatten interessierten sich dafür nicht. Sie hatten, was sie wollten, ihr Mahl, ihre Beute, ihr Opfer. Ich war ihnen vollkommen egal.
Wir verließen allmählich die beleuchteten Etagen und wurden nach und nach in Dunkelheit getaucht.
"Lass mich los! Rette dich", zwang Daliah sich dann über die Lippen. Ihre Hoffnung hatte sie mittlerweile aufgegeben. Wer weiß, wie lange sie schon an diesem Ort gefangen gewesen sein muss.
"Schon vergessen, wie stur ich bin? Niemals lasse ich dich hier einfach zurück!", entgegnete ich schnippisch, wenngleich die Situation dafür nicht angebracht war.
Ich gab mir mehr Mühe, schaukelte heftiger umher, versuchte Daliah noch kräftiger aus dem Griff zu ziehen. Ich blieb stur und gab nicht auf.
"Lass los!", sagte sie wieder und weinte dabei.
"Lass mich einfach los... Es ist okay!"
Ich wurde wütend und brüllte: "NIEMALS!!!" und als ob das Geschöpf mich nun ernst zu nehmen schien, blieb es stehen. Kurz darauf knallten Daliah und ich unsanft auf die Treppe. Das Wesen hatte offenbar freiwillig seinen Griff gelöst. Nur wenige Sekunden verharrte ich auf der Treppe sitzend und blickte dem Wesen entgegen, um darauf vorbereitet zu sein, was auch immer nun folgen mochte.
Aufgrund des sehr schwachen Lichts konnte ich kaum etwas erkennen, doch eines sah ich, seine Form veränderte sich offenbar; das Wesen schien sich zu mir vorzubeugen. Ich ahnte böses und zischte, ohne meinen Blick von der Schattengestalt abzuwenden, zu Daliah: "Lauf! Daliah! Lauf! LAUF!"
Gesagt, getan. Daliah zögerte nicht einen Moment und eilte erneut die Treppen hinauf. Ob sich ihre Schatten dessen gewahr waren, konnte ich nur mutmaßen, sie schienen sich auf mich zu konzentrieren.
Plötzlich zischte etwas durch die Luft, und ehe ich mich versah spürte ich einen tiefen stechenden Schmerz in meiner linken Schulter. Ich schrie auf. Irgendetwas scharfes und spitzes bohrte sich hindurch. Doch es war nicht nur der stechende Schmerz, der meine Sinne flutete, ich spürte, wie sich etwas um mein Herz wickelte und es langsam immer stärker zusammendrückte. Es fühlte sich an, als würde ich in meinem Innersten zerquetscht werden. Ich versuchte nach dem Ding zu greifen, welches sich in meine Schulter gebohrt hatte, doch ich griff nur wieder folgenlos durch die Luft hindurch. Das Wesen war offenbar in der Lage mit der Materie seiner Umwelt nach seinem eigenen Belieben zu interagieren. Das machte es ungemein mächtig und ich wusste nicht, welches Mittel dagegen eine Wirkung zeigen würde.
Daliah vernahm offensichtlich meinen Schrei, denn ich hörte sie von weitem zurufen: "NEIN!!! DANIEL!!!", die Sorge um mein Wohlergehen und die Angst vor dem, was noch kommen könnte, schwangen unüberhörbar in ihrer Stimme mit.
Dies war der Lockruf, die süße Beute, nach der ihre Schatten gierten. Wie ein ausgehungertes Tier ließ es augenblicklich von mir ab, löste das Instrument, oder was auch immer es war, das mich durchbohrt hatte und mein Herz zerdrückte, und eilte die Stufen hinauf zu Daliah. Allmählich verstand ich, was dieses Wesen wollte und das konnte ich mir zum Vorteil machen.
Erlöst von dieser Pein atmete ich auf, doch wieder durfte ich jetzt nicht nachlassen. Jede Sekunde zählte. Ich habe Daliah grade erst befreien können, ich durfte keinesfalls zulassen sie wieder in die Fänge ihrer Schatten geraten zu lassen. Meine Schulter blutete und schmerzte, ich ignorierte es und rannte mit dem letzten Rest der mir verbliebenen Kräfte die Treppe hinauf, dem Monster hinterher. Doch es war schneller als ich.
Aus der Ferne sah ich, wie Daliah weiter nach oben flüchtete, die Schatten bereits dicht hinter ihr. Ich verlor zu viel Blut, mir wurde allmählich schwindelig. Die Anstrengung und diese Verletzung, der Stress und dieser Terror, das war zu viel auf einmal. Doch ich musste es weiter versuchen. Ich musste weiterkämpfen. Ich durfte einfach nicht aufgeben. Selbst wenn es mein Leben kosten sollte, so würde ich alles tun, um sie zu retten.
Sobald ich wieder in die Reichweite des trüben Fensterlichts kam, sah ich, wie stark ich blutete. Es floss schon fast in Strömen hinunter und verlieh dem blassen und trockenen dunkelgraubraunen Holz ein wenig Farbe, ein wenig von meinem Leben.
"Nur noch ein paar Stufen. Komm schon, Daniel, du schaffst das!", redete ich mir ein und ich hatte eine Idee, wie ich Daliah ein für alle Mal von diesem Grauen befreien konnte. Mein Leben war ohnehin schon verwirkt. Eine letzte gute Tat, für den letzten guten Menschen.
Endlich erreichte ich die oberste Etage wieder. Das Monster stand dicht vor Daliah, sie wiederum mit dem Rücken an der Tür kauernd. Mich gerade noch bei Bewusstsein haltend rief ich dem Schattengeschöpf entgegen: "Hey! Ich weiß, was du willst. Ich weiß, wonach du dich sehnst. Ich weiß, wovon du lebst und ich kann es dir geben. Nimm mich an ihrer Stelle!"
Auch wenn diese Figur aus zerfließenden und wild umherzuckenden Schatten nicht wirklich feste Merkmale hatte, schien ich seine Aufmerksamkeit erregt zu haben, da es wirkte, als würde es sich mir zuwenden. Daliah versuchte mich aufzuhalten: "Nein! Tu das nicht!", flehte sie mich an. Doch ich sprach unbeirrt weiter: "Du nährst dich von grausamen Ängsten. Du labst dich an emotionalem Leid. Das ist doch richtig, oder? Ich kann dir all das geben. Und ich würde mich nichtmal wehren."
Das Wesen näherte sich mir.
Ich fuhr fort: "Ich weiß nicht, wozu du fähig bist, ich weiß eigentlich nichts über dich. Aber vielleicht hast du vorhin, als du mich töten wolltest, gesehen, oder gar gespürt, was in mir steckt. Willst du darauf wirklich verzichten?"
Ich ging solange zurück, bis ich mit meinem Rücken die Brüstung berührte. Das übermenschlich riesige Geschöpf näherte sich mir weiterhin.
"Lass Daliah frei und ich bin dein."
"Nicht, Daniel!", bat mich Daliah aus dem Hintergrund rufend.
Plötzlich hörte man erst ein Klacken, dann ein Knarzen und ich konnte sehen, wie die Tür hinter Daliah sich öffnete; sie bemerkte es ebenfalls. Den Raum dahinter konnte ich nicht erkennen, denn alles hinter der Tür erstrahlte in blendend weißem Licht. Doch es konnte nur eines bedeuten: Freiheit.
"Gut", sagte ich entspannt. "Dann hol mich!"
Mit diesen Worten hob ich mich über die Brüstung und ließ mich in die Dunkelheit fallen. Das Schattenwesen schrie wieder auf und sprang hinterher, doch mir war es mittlerweile egal, dass meine Ohren schmerzten. Daliah war in Sicherheit. Das war alles, was für mich zählte.
Ich sah noch, wie Daliah über die Brüstung hinweg ihre Hand nach mir ausstreckte und ich vermute, dass sie "NEIIIN!!!" geschrien hatte, doch ich konnte es aufgrund des ohrenbetäubenden Gebrülls des Ungetüms nicht wirklich hören. Was ich jedoch ganz klar sah, waren die Tränen, die sie verlor. Ich versuchte ihr ein letztes Lächeln zu schenken.
"Sei nicht traurig, Daliah.", sagte ich in Gedanken, "Wir werden uns wiedersehen. Eines Tages, irgendwie und irgendwo."
Ich spürte deutlich die Luft an mir vorbeiströmen, während ich in die Finsternis herabfiel. Es war ein schönes Gefühl. Und nach einer Weile war ich bereits so tief durch das Treppenhaus hindurchgefallen, dass die beleuchteten Etagen nicht länger mehr waren als ein kleiner, schwacher, aber lichter Punkt weit, weit über mir, der sogleich auch vom Schattengeschöpf verschlungen worden ist.
Ihre Schatten waren nun die meinen.
Und dann, dann wachte ich auf.
~ Lupus Terre
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