Montag, 6. Juli 2015

Der Namenlose IV ~ Verwesendes Verlangen

Ihr kopfloser Körper. Da ist er.
Nackt, das Fleisch teilweise herausgerissen, sodass man Knochen und gar verwesende Organe erkennen kann, mit blutigen verdreckten Flecken bespickt, ohne Verstand und doch befähigt zu laufen. Und er zwängt sich durch den mit Schädeln übersähten Boden geradewegs zu mir hindurch.
Hier bin ich nun, auf einem Stuhl sitzend, mitten in der schwarzen, kalten Unendlichkeit, mit einem Meer aus abgeschlagenen menschlichen Häuptern unter mir und dunkelrotem Licht, das mich von Oben umhüllt. Ich sitze da, nicht in der Verfassung auch nur eines dieser Gräuel wirklich verarbeiten zu können, und warte darauf, dass der junge, verstümmelte Körper der Frau mit schwarzen Haaren zu mir gelangt. Was könnte ich denn ohnehin schon tun, um diesem Alptraum zu entfliehen? Ich bin hier allein und gefangen. Gefangen in der Dunkelheit.
Es wirkt unbeholfen, wie der junge, geschundene Leib immer wieder einknickt, wenn er mit seinem Fuß auf einem der zahllosen Köpfen ausrutscht.
Nachdem er seinen Weg gefunden und beschritten hat, bleibt er zwei Schritte vor mir stehen. Der schlanke Körper dieser jungen Frau ist nun direkt vor mir und ich muss mich fast übergeben, bei dem, was ich wahrnehme.
Zu ihrer Rechten wurde ihr die Haut und unterliegendes Fleisch von einem Teil der Brust gerissen, sodass ich ihre Rippen mit bloßem Auge zählen könnte. Dahinter verbirgt sich ein dunkles, faulendes Organ, welches wohl einst die Lunge gewesen sein muss.
Was mich jedoch am meisten anwidert, ist ihr Unterleib, aus dem ihr Gedärm gerissen worden ist und nun frei aus der Bauchhöhle hängend bei jeder Bewegung umherschwingt. Gerade der davon ausgehende widerwärtige Gestank, der sich durch die kalte Luft hindurch in meine Nase zwängt, treibt mir den Inhalt meines Magens in die Kehle.
Trotz meines Dranges diesem Ort und vor allem der Nähe dieses vor mir stehenden Leichnams zu entfliehen, begreife und akzeptiere ich nach und nach die Ausweglosigkeit meiner Situation und beschließe der Bitte der jungen Frau nachzukommen. Also strecke ich ihren Kopf, der sich immer noch in meinen Händen befindet, ihrem Körper entgegen, in der Hoffnung, er würde ihn an sich nehmen.
Und tatsächlich, obwohl ihr Leib erst regungslos vor mir stand, reagiert er auf meine Geste und greift mit seiner linken Hand nach dem Schädel. Doch entgegen meiner Erwartung, dass er diesen sanft und mit Obacht wieder an sich nehmen würde, verfestigt er seine Finger lediglich um die kurzen schwarzen Haare und zerrt ihn daraufhin grob an sich.
Ihr Arm führt ihren Kopf nun in Richtung ihres Oberkörpers, bis er seine Bewegung unterbricht, als ihr Haupt mit ihrem Gesicht mir zugewandt in etwa auf der Höhe ihrer Schultern stoppt.
Immer noch an den Haaren haltend, baumelt ihr Schädel nun in der Luft. Ein wirklich überaus groteskes Bild, wie der Leichnam mit blutigem Stumpf an der Stelle, an der einst sein Kopf saß, diesen in einer Hand vor sich hält.
Ich blicke in ihrem Gesicht den mit dem schwarzen Stacheldraht zugenähten Augen entgegen und erwarte, dass nun wieder etwas geschieht, das ich nicht erwarte und das mich mehr traumatisiert als all die anderen Schrecken hier. Und tatsächlich zucke ich auf, als ihre vormals toten und zerschlissenen Lippen erneut beginnen sich zu bewegen.
Es ertönt erst ein ermüdetes, ächzendes Stöhnen, ehe ich den Klang von Worten vernehme:
"Danke... Das... wird dir... vergolten...", es scheint große Anstrengung zu kosten in solch einem Zustand zu sprechen. Verstörend genug, dass dies überhaupt möglich zu sein scheint.
Ehe ich jedoch etwas antworten kann, spricht sie weiter:
"Magst du mich?", allmählich wirkt ihre Stimme klarer, da sie deutlicher, lauter und kräftiger wird, als ob man einen Teil ihres Lebens wieder in sie hineingehaucht hätte.
Ich antworte auf diese Frage offen und ehrlich: "Ich kenne dich nicht. Ich weiß es daher nicht."
Mir bleibt verschleiert, weshalb sie solch eine Frage stellt, doch was soll ich denn anderes tun, als darauf zu antworten?
"Du hast gesagt, du liebst meine grünen Augen.", waren ihre nächsten Worte.
Mein Blick fokussiert sich auf ihre schmerzhaft vernähten Lider. Eine Augenfarbe kann ich durch dieses Bild Stahl durchzogenen Fleisches nicht erkennen. Sie scheint mich für jemanden zu halten, der ich nicht bin.
"Ich verstehe nicht, wovon du sprichst! Das habe ich nie gesagt. Der, für den du mich anscheinend hältst, bin ich nicht!", entgegne ich ihr.
Daraufhin ertönt ein amüsiertes Kichern.
"Wer bist du denn dann?"
Plötzlich zerren ihre Augenlider wieder an dem Draht und versuchen sich zu befreien. Weitaus kräftiger, als es möglich sein sollte, schaffen sie es auch und ihr Fleisch reisst sich mit brachialer Gewalt durch die mit spitzen Stacheln übersähten groben Drähte. Dabei zerfetzen weite Teile der Haut, welche sodann wie in Schnipsel zerschnittene feuchte Lappenfetzen zu Boden fallen.
Nur einen einzigen Blick kann ich auf das werfen, was sich dahinter verbirgt.
Schwarze, feuchte Bruchstücke, die in ihren Augenhöhlen liegen wie kleine Kohlebrocken, und nicht menschliche Augen mit grüner Iris, sind das, was ich zu sehen bekomme.
Erheitert klang ihre Stimme, als sie mit ihren wortwörtlich aufgerissenen Augen und einem Lächeln im Gesicht fragte: "Wer bist du?"
Dann wieder Dunkelheit. Das rote Licht erlosch und Stille kehrte instantan ein.
Doch die Stille währte kaum einen einzigen Moment, da sie nun durch eine Art kurzes mechanisches Klacken unterbrochen wird. Zeitgleich spüre ich, wie meine Arme auf unerwartet auftauchende Armlehnen des Stuhles gepresst werden. Ich versuche sie zu bewegen, doch werde durch Schellen daran gehindert. Ebenso sind meine Beine jetzt am Stuhl gefesselt. Dies ist wohl der Ursprung des Geräusches gewesen.
Panik macht sich wieder in mir breit. Wird mir nach all diesem psychischen Terror nun auch körperliches Leid widerfahren?
Ich strenge mich mit der gesamten Kraft meines Körpers an, um aus den Fesseln zu brechen. Jedoch erzielt mein wildes, planloses Umherzappeln nicht das Geringste. Ich schaffe es nicht einmal den Stuhl zum Kippen zu bewegen. Es scheint, als wäre er fest im Boden verankert.
Meine Atmung ist erhöht, trotz allem kämpfe ich und versuche mich zu befreien.
Nach einer Weile jedoch erliege ich der Anstrengung und gebe auf. Es gibt kein Entkommen.
Während ich die eisige Luft tief ein und ausatme und versuche mich zu beruhigen, um zumindest im Ansatz wieder einen klaren Kopf zu erlangen, bemerke ich, wie erneut ein Kegel aus Licht mich umhüllt. Diesmal jedoch schaltet er nicht ruckartig ein, sondern wird nach und nach heller. Auch die Farbe hat sich geändert. Es ist nicht mehr das Rot des Blutes, sondern ein reines weißes Licht, welches mich nach und nach stärker von oben herab beleuchtet.
Um einen Überblick über mein endloses Gefängnis zu erhalten, erhoffe ich mir einen Hinweis aus der Lichtquelle, weshalb ich nach oben blicke. Jedoch kann ich nichts erkennen, stattdessen schmerzen meine Augen aufgrund der Blendung.
Das Licht hört rasch auf heller zu werden und verharrt bei einer gleich bleibenden Intensität. Es ist heller, als das rote Licht, aber nach wie vor nicht hell genug, um diese ewige Finsternis zu durchbrechen.
Als ich jedoch auf den Boden schaue, fällt mir sofort eines auf: Die Köpfe sind fort!
Kein einziger der Schädel ist mehr zu sehen, nicht einmal irgendwelche Spuren, wie Blut, sind zu erkennen. Nur ein weißer Kreis, der durch die Beleuchtung entsteht, bildet sich auf dem Grund und hebt sich vom Rest dieses Ortes scharf ab.
Weiterhin kann ich jedoch keine Möglichkeit erkennen mich aus den Schellen dieses hölzernen Stuhles zu befreien.
Ich blicke mich um und versuche die junge schwarzhaarige Frau zu finden. Kurz darauf spüre ich plötzlich wie sich etwas feuchtes, leicht schleimiges aber weiches und warmes von der linken Seite meines Halses an zu meiner Wange zieht. Zunächst erstarre ich, wage nicht mich zu bewegen und bekomme eine Gänsehaut bei diesem unerwarteten Gefühl unbekannter Herkunft. Es läuft mir kalt den Rücken hinab, ich weiß nicht, wie ich mich jetzt verhalten soll. Dann höre ich jemanden an meinem linken Ohr leicht durch den Mund ausatmen.
Schlagartig weiche ich mit meinem Oberkörper nach rechts und wende mein Haupt zur anderen Seite, um zu sehen, wer oder was dafür verantwortlich ist.
Da steht sie, die junge schwarzhaarige Frau, splitterfasernackt neben mir und lacht belustigt - vermutlich aufgrund meiner Reaktion. Sofort fällt mir auf, dass sie sich verändert hat. Ihr Kopf war wieder an seinem dafür vorgesehenem Platz an ihrem Körper, mit dem Unterschied, dass Schädel und Hals mit der selben Art schwarzem Stacheldraht zusammengenäht waren, wie einst nur ihr Mund und ihre Lider. Überdies war ihr Körper nahezu unversehrt. Abgesehen von den nun längeren schwarzen Haaren und davon, dass sie verdreckt war, als hätte sie erst in Schlamm gebadet und wäre dann mit Asche durchsetztem Wasser überströmt worden, gab es sonst kein Merkmal körperlicher Schäden an ihr.
Auch ihre Augen und ihr Mund waren verheilt und ich konnte im weißen Licht nun tatsächlich ihre grünen Augen erkennen.
Der stählerne Draht an ihrem Hals war daher die einzige ungesunde Auffälligkeit.
"Was erschreckst du dich so? Du magst das doch!", sagte sie erheitert. Überfordert mit der Situation, nicht in der Lage nachzuvollziehen, nach welchen Gesetzen diese finstere Hölle funktioniert, stammle ich eine Antwort: "Ich äh... ich... was... äh... W-w-wer bist du?"
"Wer ich bin? Oh, mein Lieber, das weißt du doch ganz genau!", in ihrer Stimme schwang etwas lüsternes mit. Es hatte einen verführerischen Klang und sie warf mir einen derartigen Blick zu als würden wir uns seit Jahren kennen und als müsste gerade ich vor allen anderen auf dieser Welt wissen, wer diese Frau ist. Doch egal, wie ich vom Wahnsinn getrieben auch mein Gedächtnis durchforste, mir will partout nicht in den Sinn kommen, wer sie ist, oder sein könnte. Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.
Gemächlich umkreist sie mich und scheut sich dabei nicht mir ihre physischen Reize zu präsentieren, bis sie hinter mir ist und ihre Arme sanft um meinen Hals auf meine Schultern legt. Zugegeben, allmählich sorgt diese Behandlung sogar für ein Wohlgefühl. Verglichen mit den Alpträumen, die ich bis hierher erlebt habe, ist dies mehr als Willkommen. Aber ich muss vorsichtig bleiben und muss versuchen zu widerstehen. Wer weiß, was mich noch erwartet.
"Lass mich los!", fordere ich sie also energisch auf.
Ein langer und sanfter Kuss in meinen Nacken ist jedoch ihre Reaktion. Ein wirklich schönes und angenehmes Gefühl, aber ich darf mich dieser Verlockung nicht hingeben! Was wäre ich, würde ich in so einer Situation solche Ablenkungen zulassen?
Nun werde ich wutentbrannter: "Hör' auf! Das ist doch krank! Lass mich gehen!"
Endlich löst sie sich von mir, bewegt sich wieder vor mich und beugt sich mir entgegen.
"Gehen?", fragt sie mit einem eindringlichen und traurig wirkenden Blick, "Wohin denn gehen?"
"Ich will einfach nur hier weg!"
Mit einem Mal weicht sie ruckartig mehrere Schritte von mir zurück, fast schon so weit, dass sie aus dem Lichtkegel verschwindet. Sie wirkt enttäuscht.
"Du willst weg? Du willst mich also verlassen?", sie verdeckt mit einer Hand ihre Augen.
"SCHON WIEDER???", brüllt sie plötzlich aus aller Tiefe ihrer mit Stacheldraht vernähten Kehle, nimmt ihre Hand wieder fort und starrt mich hasserfüllt an. Blitzartig schlägt diese Szenerie wieder in die Hölle um, die ich vorher erlebt hatte, als hätte man einen Schalter umgelegt. Das Licht flutet wie vorher blutrot von oben auf mich und meine unmittelbare Umgebung herab und beleuchtet ebenfalls das wieder aufgetauchte Meer aus Köpfen unter mir.
Die junge Frau, die vormals einen noch halbwegs ansehnlichen Eindruck erweckte, ist erneut so unaussprechlich verstümmelt und ihre linke Hand hat ihren Kopf so an den Haaren gepackt im Griff wie vormals auch.
Kaum werde ich mir diesem schlagartigen Wechsel gewahr, macht sie einen Satz und rennt mit einem ohrenbetäubenden Kreischen auf mich zu. Könnte ich doch bloß meine Hände befreien!
Mit großer Wucht stößt sie gegen mich und kippt damit den Stuhl, von dem ich geglaubt hatte, er wäre im Boden fest verankert, rückwärtig hinein in das Schädelmeer.
Dann beißt sich ihr Kopf in meine rechte Wange. Ihr Biss ist stark und erbarmungslos. Ich schreie auf vor Schmerz, ich versuche zeitgleich mich zu befreien, ich bebe vor Angst, ich will einfach von hier fort! Was habe ich verbrochen, um das zu verdienen?
Nur am Rande bemerke ich, wie all die Köpfe um mich herum allmählich zum Leben erwachen und sich zu mir hin bewegen, während ich darum kämpfe mich zu befreien und sie mit ihrem festen Biss von mir abzuschütteln. Kein Erfolg, es ist hoffnungslos. Erneut schreie ich gequält auf. Grässliche Schmerzen überfluten meine Sinne. Ich sehe und spüre, wie all die unzähligen Köpfe mir das Fleisch von den Knochen reißen und mich nach und nach unter ihnen begraben. Sie beißen mir in die Beine, in die Arme, in mein Gesicht, meine Ohren, Finger, Zehen, Bauch, Rücken. Von allen Stellen meines Körpers spüre ich, wie sich menschliche Zähne in mein Fleisch bohren und es mit brachialer Gewalt hinausreißen. Ich werde bei lebendigem Leibe gefressen! Ich kann nicht mehr atmen, nicht mehr schreien und spüre nur noch einen Schmerz, wie ich ihn nie zuvor erlebt habe, ehe alles um mich herum verblasst und ich mein Bewusstsein allmählich verliere.
Ist dies nun mein Ende?





by
Lupus Terre



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