Blut. Tränen. Regen. Und das unablässige Peitschen des Meeres. Das
waren Dinge, die er ignorierte, denn für ihn zählte nur eines. Seine
Frau war tot.
"Valëza, nein! Nein, nein, nein, nein, nein....
Wieso nur?", wimmerte er leise vor sich hin, an der Leiche seiner Frau
kniend. Seine Welt war für ihn zusammengebrochen. Und er weinte Tränen
auf sie herab. Salzige Tränen des Verlustes, die der Regen nicht
hinfortspülen konnte.
Das Blut seiner Frau quellte aus ihrer
Wunde. Längst hatte es auf dem hölzernen und verwahrlosten Boden des
Steges eine Pfütze gebildet, die vom Regen verdünnt auch hinab in das
dunkle Meerwasser tropfte.
So viele Jahre tiefer Liebe, Freundschaft und Leidenschaft von den Fluten der Zeit hinfortgespült.
Korab,
ihr Ehemann, drückte ihren Kopf fest an sich, betete zu allen Göttern
in allen Himmeln und auf allen Erden, dass dies nur ein Alptraum sei aus
dem er erwachen würde. Er flehte mit jeder Faser seines Körpers in die
Zeit zurückreisen zu können, um den Mord an seiner Frau zu verhindern.
Der mittvierzige Mann wollte es nicht wahrhaben. Immer und immer wieder
flüsterte, sprach und schrie er in Gedanken, Sie ist tot! Sie ist tot,
sie ist tot! SIE IST TOT!!! Oh mein Gott, sie ist tot..., und verstand
es dennoch nicht. Vor einem Augenblick war sie noch da, schenkte ihm
eines dieser Lächeln, weswegen er sich unter anderem vor über 20 Jahren
gleich in sie verguckt hatte. Sie standen dieses Jahr wieder auf diesem
Steg am Meer, an dem es damals zu ihrem ersten Kuss kam, standen im
Regen, doch das machte ihnen nichts. Sie waren glücklich, so viele Jahre
lang waren sie glücklich miteinander. Und im nächsten Augenblick
donnerte aus dem Nichts ein Instrument des Todes hervor. Eine
Pistolenkugel durchbohrte ihre Brust und plötzlich - kaum einen
Lidschlag danach - tränkte Blut die weiße Bluse seiner geliebten Frau
Valëza in einem frischen und satten Rot. Die Sekunden, in denen sie dann
zu Boden fiel, vergingen für Korab wie Minuten. Aus allen Wolken
gerissen, geschockt und mit diesem grausamen Ereignis überrascht, verlor
er seine Befähigung wahrzunehmen und zu verstehen, was doch direkt vor
ihm geschehen war. Mit seinen braunen Augen sah er alles. Er sah das
Blut, wie es mit jedem von Valëzas verbliebenen Herzschlägen
hinausströmte, sah, wie sie die Kraft in ihren Muskeln verlor und ihre
letzten Atemzüge zusammengesackt auf dem harten und durchnässten
Holzboden des Bootssteges machte, ehe sie der Lebenshauch, mit offenem
Mund und den Augen auf ihren Seelenverwandten gerichtet, verließ. Jedoch
erreichte diese hautnahe Todesbotschaft nicht die Tiefen seines
Bewusstseins. Wie angewurzelt und in Trance blieb er erst stehen und
starrte vollkommen entgeistert auf den noch warmen, aber leblosen Leib
seiner Frau zu seinen Füßen. Erst, als er hörte wie ein Wagen über den
Kiesstrand in die Ferne flüchtete, begann er zu begreifen, was sich eben
vor seinen Augen abgespielt hatte.
Sie starb und jemand hatte sie
ermordet. "Wie kann das sein? Wieso sollte jemand so etwas
schreckliches tun?", schluchzte Korab, immer noch gegen die gnadenlose
Wahrheit ankämpfend.
Valëza war für ihn alles. Sie war seine Welt,
sein Zuhause, seine Vergangenheit und auch seine Zukunft. Mit keinem
anderen Menschen fühlte er sich je derart verbunden. Kein anderer Mensch
war ihm je so wichtig wie sie. Mit ihr verlor er einen sehr großen Teil
von sich selbst. Die Liebe zu ihr wuchs über all die gemeinsamen Jahre,
sie wuchs so stark, dass Valëza für ihn so bedeutsam wie die Luft zum
Atmen war. Mehr noch, sie war ihm um ein so Vielfaches wichtiger als er
sich selbst. Er hätte alles für sie getan.
Korab wusste, dass sie
der Grund war, weshalb er jeden Tag aufs Neue nicht nur mit einem
ehrlichen, aufrichtigen und wahrhaft glücklichen Lächeln aufstand,
sondern überhaupt den Mut und Willen aufbringen konnte das Leben mit all
seinen Einzelheiten in Angriff zu nehmen. Mit Valëza zusammen fiel ihm
gleich so vieles einfacher. Dinge, die er sich vormals selbst nie
zugetraut hätte, waren nur möglich, weil sie an seiner Seite war, weil
sie für ihn da war, weil diese beiden Menschen Partner waren, welche
Rücken an Rücken allen Gefahren und Herausforderungen des Lebens
trotzten.
Und nun, nun lag sie da. Tot, vom Regen durchnässt, vom Blut gefärbt.
"Sie
ist weg. Sie ist weg... Wie kann sie weg sein?", brach Korab mit
weiteren Tränen aus, "Verlass mich nicht, Valëza! Lass mich nicht allein
zurück! Bitte nicht! Bitte nicht! Bitte sag doch etwas! Bitte!", flehte
er.
Das konnte nicht die Realität für den gebrochenen Mann sein.
Jedenfalls keine, in der er Leben wollte. Und obwohl er ihren toten
Körper in seinen zitternden Armen hielt, und obwohl er den ihm nur allzu
bekannten Duft in ihren Haaren roch, und obwohl er spürte, wie der
kalte Regen auf ihn niederströmte, wirkte das alles doch noch so
befremdlich und unwirklich auf ihn, wie ein Riss in der Realität, der eher
einem wahnhaften, kranken Fiebertraum glich, statt des wirklichen Lebens, wie er
es gewohnt war.
"Es war doch alles in Ordnung! Wir waren
glücklich! Wir haben niemandem etwas getan und waren gute Menschen!
Wieso sollte uns das jemand antun? Wieso nur? Wieso?", seine Versuche
die Zusammenhänge der Situation zu verstehen, blieben ergebnislos. Zu
stark war der Schmerz, der sein Bewusstsein betäubte.
Außer ihr, hatte Korab niemanden. Keine Kinder, keine Freunde und auch sonst keine näheren Bekannten, oder gar Verwandte. Bei Valëza war es nicht anders. Doch die Beiden brauchten auch niemand anderen. Sie hatten sich. Zusammen waren sie allein.
Nun konnte sich der Mann nicht mehr halten und er brach in einem lauten, schmerzerfüllten Heulen aus. Sein ganzer Körper zitterte und verkrampfte sich vor Qual. Deutlich konnte man seine Pein auch in der dysharmonischen Melodie seiner Trauer beben hören. Nie zuvor spürte er so einen Schmerz. Es war die Art Schmerz, bei der selbst die Qualen physischen Traumas verblassen würden. Ein unsäglich tief sitzender und scheußlicher Schmerz, den man nicht einmal seinen schlimmsten Feinden wünschen würde.
In seinem Leben weinte Korab nur als Kind, aber seither nie wieder. Dieses Mal allerdings füllten die Tränen seine Augen solchermaßen, dass er nicht mehr klar sehen konnte. Er umklammerte den Leichnam seiner Frau fest und schrie vor Leid ihren Namen in das endlose, weite Meer hinaus, als ob sie ihn noch hören könnte und zurückkehren würde.
"VALËZA! VALËZA! VALËZA! NEIN!!!"
Mehrere Stunden vergingen, ohne dass Valëzas nun seelisch zerstörter Gatte wahrnahm, wie aus dem Abend die Nacht wurde und wie das Licht zu Schatten zerschmolz. Niemand, außer ihm - mit seiner verstorbenen Geliebten zugegen - hielt sich an diesem Tag und bei diesem degoutanten Wetter am Pier auf. Er wurde ohnehin seit vielen Jahren nicht mehr genutzt und gehörte zu einem längst verwaisten kleinen Fischerdorf, weit abgelegen und verlassen von jedweder größeren Ortschaft.
Längst hatte auch der Regen nachgelassen, ebenso wie Korab keine Kräfte mehr zum Weinen erübrigen konnte. Kühl war es dennoch, zumal der Wind weiterhin fast schon stürmische Wellen trieb. Schwarze Wolken verdichteten sich am Himmel und stahlen jede Möglichkeit einen Blick auf das Sternenzelt zu erhaschen. Selbst das volle Mondlicht drang nur beschwerlich durch die Wolkendecke hindurch. Korab interessierte das nicht. Zwar fror er, zitterte also nicht nur aufgrund des psychischen Traumas, hatte eine sichtliche Gänsehaut, interessierte sich jedoch nicht dafür. All diese Dinge waren ihm vollkommen egal. Katatonisch kniete er da, entkräftet und zerstört, seines Herzens und jeder Möglichkeit eines weiteren Wohlgefühls für immer beraubt. Und er erinnerte sich an den Tag seines und Valëzas ersten Kusses.
Es geschah ebenfalls hier an diesem Pier. Sie waren beide frisch verliebt und trafen sich zu einem romantischen Picknick am Strand. Ein warmer Sommertag mit wolkenlosem, klarem, blauem Himmel machte dieses Rendezvous fast schon zu perfekt. Das Essen konnten sie in gegenseitiger Gesellschaft wunderbar genießen, sie redeten und lachten viel miteinander.
Oh dieses Lächeln, dachte Korab, Sie hatte immer schon so ein wunderschönes und liebliches Lächeln. Ich konnte es mir stundenlang ansehen und davon nicht ermüden.
Die Zeit verstrich wie im Fluge und ehe sie sich versahen, konnten sie den Sonnenuntergang miterleben. Die Lage des Piers war günstig. Bei Sonnenuntergängen konnte man den feurigen Stern im Wasser fern am Horizont, beinahe in einer geraden Linie zum Steg, untergehen sehen.
Valëza und Korab saßen zu dem Zeitpunkt am Kopfende der hölzernen Meeresbrücke, ließen ihre Füße im angenehm warmen Meerwasser taumeln und beschauten schweigend, aber in vollkommener Harmonie die untergehende Sonne.
Dann, als sie halb im Meer versunken war, richtete Valëza ihre meerblauen und klaren Augen auf Korab, warf ihm wieder jenes Lächeln zu, neigte sich danach vor und küsste ihn schließlich. Es war ein berauschender Augenblick für den damals noch jungen Mann. Er erwiderte ihren Kuss genauso sanft wie sie, so voller Liebe und Wärme, dass es einen Sturm elektrisierender und beglückender Gefühle in ihm auslöste.
Ab jenem Tag waren sie vereint und für über zwanzig Jahre lang ein durchweg glückliches Paar.
Allerdings erwachte Korab wieder aus seinem nostalgischen Traum. Sein Blick fiel wieder auf das leblose Augenlicht seiner Liebsten und kurz darauf folgten erneut Tränen.
"Ich kann und ich will ohne dich nicht mehr Leben", sprach er und streichelte ihr dabei sanft über die Wangen.
Manch einer hätte Wut und Hass empfunden und würde Rache für solch einen Akt nehmen wollen. Doch nicht Korab. Dinge, wie Rache, oder Hass, hatten keine Bedeutung mehr für ihn, nicht ohne seine Valëza. Es würde ihm seine Geliebte nicht zurückbringen, würde er ihren Mörder zur Rechenschaft ziehen. Zumal Valëza sich niemals gewünscht hätte, dass Korab sich auf einen derart finsterem Pfad begab. Das wusste er mit Sicherheit, denn sie war die Eine. Die Frau und die Liebe seines Lebens, seine Seelenverwandte, seine Göttin, sein Ein und Alles. Und nun ist sie zu Nichts geworden. Nichts weiter mehr, als eine leblose, gefühllose und kalte fleischliche Hülle.
Am Ende sind wir bloß kaltes Fleisch, über das die Wehmut sein Leichentuch mit Laudatio zieht. Und nur ein Schrei von Kummer eilt dann noch der untergehenden Sonne entgegen.
"Vergib mir", drückte er sich nun laut und nicht gedanklich aus, "Aber den anderen Wunsch kann ich dir nicht erfüllen."
Valëza würde wissen, dass er damit sein Leben meinte.
"Es gibt nichts lebenswertes für mich auf dieser Welt. Du warst das einzige Feuer, das für mich brannte."
Korab schob seinen rechten Arm unter ihre Beine und seinen linken unter ihren Oberkörper und hob sie sodann auf, während er sich selbst zeitgleich aufrichtete. Er trug sie zum Strand zurück, nur um dann an der linken Seite des Steges entlang langsam in das kalte Wasser hineinzuwaten.
"Im Tod werden wir uns wiedersehen, geliebte Valëza."
Die Wellen des Meeres peitschten kräftig gegen das Ufer und damit gegen Korab. Als würde Valëza mich aus dem Jenseits aufhalten wollen, kommentierte er dies gedanklich. Doch die Strömung war nicht stark genug, um ihn aufzuhalten, sodass er weiter voran kam und Valëza bereits in das fast schwarze Wasser eintauchte.
"Die Flut wird uns Trost spenden, bis wir wieder vereint sind."
Nun war Korab selbst bereits bis zum Hals im Wasser und zwängte sich weiter nach vorn.
Welch eine Ironie es doch ist, dass unsere gemeinsame Zeit an genau dem Ort tragisch endet, an dem sie einst so wundervoll begonnen hatte, verbittert waren seine Gedanken.
Kurz bevor das Wasser seinen Mund erreichte, widmete er Valëza seine letzten Worte:
"Ich werde für immer bei dir sein. Ich liebe dich!"
Und dann wehrte er sich nicht gegen die salzigen Wassermassen, welche seinen Mund und seine Nase fluteten. Er ließ es zu. Er atmete es ein; ließ es in seine Lungen strömen und versuchte mit seinen letzten Kräften noch weiter und noch tiefer hinaus in das finstere, schwarze Meer zu tauchen.
Seine Tränen verschmolzen mit dem Meer. Sein Lebensodem gefror. Sein Bewusstsein ertrank.
Die Kälte und tiefe Dunkelheit umhüllte ihn. Das Licht an der Oberfläche verschwand.
Vielleicht täuschte er sich, er war schon nah am Rande des Todes, hatte gerade noch einen letzten Funken von Verstand, doch die Wolken lichteten sich ein wenig und ließen das kalte und weiße Licht des Mondes in das Meer stechen und Korab war überzeugt, dass das letzte, was er vor seinem endgütligen Ableben noch wahrnehmen konnte, das liebliche und süße Lächeln auf dem Gesicht seiner geliebten Valëza war.
~ Lupus Terre
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