Es war der 16te Mai 2012, als Eduard den Freitod wählte. Es war ein sonniger Mittwoch. Für alle aus meinem Freundeskreis war es der letzte Tag der Abiturprüfungen. Mündliches Abitur, um genau zu sein. Es ist überraschend, wie viele an dem Tag bereits geahnt hatten, dass etwas passieren würde. Wie ein Miasma, das in der Luft lag.
Als ich meine Tasche packte, während ich mich mental auf die Abiturprüfung vorbereitete, fiel ein kleiner schmaler Streifen Papier aus einem von meinen Notizblöcken herunter auf den Boden. Ich hob ihn auf und las, was auf ihm stand: "Your friend needs attention." und auf der Rückseite: "Ihr Freund braucht Ihre Aufmerksamkeit.". Es war der Zettel aus dem Glückskeks, den mein Mathelehrer an jedes Kursmitglied am Tag der Mathematik-Abiturprüfung ausgeteilt hatte. An dem Tag saß Eduard hinter mir. Als ich den Zettel das erste Mal gelesen hatte, drehte ich mich zu Eduard um und wedelte damit vor seiner Nase herum. Scherzhaft hatte ich gesagt: "Soso du brauchst also meine Aufmerksamkeit.". Eduard schnappte sich den Zettel las ihn und grinste hämisch. So wie es typisch für ihn war. Er hatte gesagt: "Du glaubst doch nicht etwa an den Quatsch, oder?" und ich hatte reagiert: "Nicht immer." und hatte mir daraufhin den Zettel wieder geholt und ihn in meinem Portemonnaie verstaut.
In der Woche vor dem 16ten ist mir der Zettel - vom 16ten selbst abgesehen - insgesamt drei Mal wieder unter die Augen gekommen. Beim ersten Mal legte ich ihn zwischen die Seiten eines Notizblocks. Jedes Mal, wenn er mir unter die Augen kam, musste ich spontan an Eduard denken. Danach erst überlegte ich, wer noch hätte gemeint sein können.
Wenn ich - wie jetzt - im Nachhinein resümiere, könnte ich das als Zeichen auslegen. Als Zeichen vom Schicksal, oder irgendeiner höheren Macht - auch wenn ich an sich nicht an so etwas glaube - gedacht dazu, mich wachzurütteln und auf Eduard aufmerksam zu machen. Immerhin hatte er es schon einmal vor und eine Reihe glücklicher Zufälle war es, die ihn davon letztlich doch abhielten und mich davon erfahren ließen. Ich hatte oft mit ihm darüber geredet.
Das vierte Mal, vor der Abiturprüfung, beim Packen der Tasche, vormittags, las ich den Zettel wieder und dachte wieder spontan an Eduard. Ich hatte überlegt ihn anzurufen, um zu erfragen wie er fährt, und ob wir uns vielleicht noch treffen, hatte den Gedanken jedoch abgetan, da ich vermutete, dass er bereits bei der Abiturprüfung war - ich kannte die Zeiten nicht - und wollte kein Risiko eingehen, zwar hatte er sein Handy stets auf lautlos, aber er hatte es auch stets an. Und ich wollte nicht derjenige sein, der ihn mitten in der Prüfung angerufen hätte und ihn gestört hätte, womöglich alles versaut hätte... wäre er jemals zur Prüfung gegangen.
Wenn ich jetzt so im Nachhinein darüber nachdenke bereue ich es, nicht angerufen zu haben und bereue es, mich nicht bei ihm erkundigt zu haben, wie es ihm geht, denn es war fast eine Woche her, als wir das letzte Mal Kontakt hatten. Vielleicht hätte es noch etwas gebracht ihn anzurufen bevor ich ging...
Als ich in der Schule war und darauf wartete zur Prüfung abgeholt zu werden, wurde ich von einem Stufenmitglied gefragt, wo Eduard sei. Denn angeblich war er nicht erschienen und auch nicht zur Prüfung angetreten. Abgemeldet hatte er sich auch nicht. Ich vermutete, dass er sich verspäten würde, womöglich war er zu spät aufgestanden und hatte auf diese Weise seine Verbindung verpasst.
Hätte ich genug Guthaben auf meinem Handy gehabt, hätte ich ihn angerufen. Doch mit 6ct und Preisen von 9ct pro Minute in andere Netze war dies nicht zu bewerkstelligen.
Zwar fand ich es relativ merkwürdig, doch große Sorgen beziehungsweise viele Gedanken machte ich mir deswegen nicht. Immerhin war so etwas nicht wirklich untypisch für ihn.
Nachdem ich meine Abiturprüfung stammelnd und mit dem Gefühl zu schlecht gewesen zu sein verlassen hatte und unter Anderem mit Jacqueline, mit der ich befreundet bin, auf die Note gewartet hatte, war von Eduard immer noch keine Spur. Ich bekam mit, wie sein Geschichtslehrer in einigen Metern Entfernung mit Kollegen und einem Schüler darüber geredet hatte, dass Eduard nicht da war. Da begann ich mich zu fragen, warum er immer noch nicht gekommen war. Prüfungsangst hatte er wohl kaum. Auch wenn Geschichte das Prüfungsfach war - ein Fach, das er bereute gewählt zu haben - war Eduard nicht jemand, der Angst vor Prüfungen, oder deren Ergebnisse, hatte. Ihm waren seine Noten in einem gewissen Rahmen egal, denn er hatte vor Physik zu studieren und das war in der Regel zulassungsfrei. Der Numerus Clausus und jeglicher Leistungsdruck ist also nichts gewesen, was Eduard irgendwie bekümmerte, solange er sein Abitur bekam, und das hätte er sicherlich bekommen - nicht einmal mit einem schlechten Durchschnitt, da er vor Allem in den Naturwissenschaftlichen Fächern immer sehr gute Noten bekam.
Jacqueline unterbreitete mir das Angebot ihr Handy zu nutzen, um Eduard anzurufen. Aber ich lehnte es ab und sagte etwas wie: "Danke, aber das ist nicht nötig. Ich denke er fühlt sich nicht gut, ist krank, oder so. Ich werde ihn mal anrufen sobald ich zu Hause bin.". Sie gab sich damit zufrieden und wir warteten weiter, bis die Noten des mündlichen Abiturs verkündet wurden.
Überrascht und voller Freude war ich, als ich ein "Sehr gut" mit einem kleinen Minus erhielt. Das hätte ich nach der Prüfung, in der ich teilweise relativ unsicher geredet hatte, nicht erwartet. Ich war kurz davor einen Freudentanz aufzuführen - hätte ich einen gekannt.
Ein gutes Gefühl verdankte ich diesem Erfolgserlebnis. Ich war so gut gelaunt, dass ich dachte, nichts könnte mir den Tag noch irgendwie vermiesen.
Auf dem Weg nach Hause - immer noch voller Freude - kam mir dann jedoch irgendwann der Gedanke: "Heute kann mir nichts mehr den Tag vermiesen. Außer vielleicht eine Sache...", und dachte dabei an Eduard, der mir den Tag vermiesen würde, würde ich erfahren, dass er sich etwas angetan hätte. Aber ich verwarf den Gedanken, denn ich erinnerte mich sogleich auch an das Versprechen, das Eduard mir mal gab, als ich versucht hatte ihn dazu zu bewegen Psychologen, Schlaflabore und Neurologen aufzusuchen, um sich helfen zu lassen. Damals forderte er mich auf davon abzulassen solchen Druck auf ihn auszuüben und fügte an, dass er wisse woran es liegt, und er es selbst in den Griff bekäme. Ich gab nur nach, nachdem ich von ihm das Versprechen verlangt hatte, er solle "keinen Scheiß" machen, sich also nichts antun, und schon gar nicht wieder auf die Idee kommen einen Suizid zu begehen. Er versprach es mir und ich gab mich damit zufrieden - wie naiv ich war!
Jetzt bereue ich es. Einerseits wollte ich ihm nicht durch mein Handeln mehr schaden, aber wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich absolut alles daran setzen ihm jegliche Hilfe zukommen zu lassen, die er benötigt hätte, ganz gleich, ob er damit einverstanden gewesen wäre, oder nicht!
Es war ein schwerer Fehler meinerseits... ein Fehler, den ich nicht wieder gut machen kann... ein Fehler, mit dem ich nun leben muss, ob ich es kann, oder nicht... es ist verdammt schwer...
Zuhause angekommen berichtete ich meiner Familie von meinem schulischen Erfolg - sie waren ganz begeistert. Und gleich darauf, noch ehe ich aus den Schuhen war, griff ich zum Festnetztelefon und versuchte ihn auf seinem Handy zu erreichen - ohne Erfolg. Danach rief ich auf die Festnetznummer seiner Wohnung an - auch ohne Erfolg. Aber ich hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Ich sagte etwas wie: "Hallo Eduard, drei Fragen: 1. Wie gehts dir? 2. Wo bist du? 3. Wieso warst du nicht in der Schule bei der Prüfung? Ruf mich bitte zurück! Grüße, D."
Unbeschwert, ohne große Sorgen aß ich irgendwann danach zu Mittag. Es gab chinesische Nudeln, eine meiner Leibspeisen.
Doch während ich am Essen war - es war mittlerweile irgendwann gegen 17 Uhr - rief seine Mutter an. Sie klang sehr besorgt und sagte, Eduard hätte sich in seinem Zimmer eingeschlossen und es sei dort alles abgedunkelt. Als ich das hörte begann mein Herz schneller zu schlagen, ich begann mir immer größer werdende Sorgen zu machen, dachte mir Fetzen wie: "Er hat doch nicht etwa...?", oder "Das hat er bestimmt nicht...". Seine Mutter fragte mich, was sie tun solle. Sie erzählte, dass sie versucht hätte ihn durch die Tür hindurch anzusprechen, aber er würde nicht reagieren. Sie fragte, ob sie die Polizei rufen solle, oder warten solle, oder was anderes unternehmen solle. Ich versuchte die Beherrschung nicht zu verlieren und sagte "Abwarten, vielleicht schläft er nur, oder hört über Kopfhörer Musik und will einen Moment alleine sein, und kommt dann irgendwann raus.". Man merkte deutlich, dass sie in Sorge war, und etwas davon streifte auf mich ab. Dennoch bewahrte ich die Fassung und antwortete auf ihre nächste Frage, ob ich wisse, was los sei, ob irgendetwas vorgefallen sei, und ob er denn bei der Abiturprüfung gewesen sei, nur Dinge wie: "Weiss ich nicht", "Nicht das ich wüsste", "Nein, da war er nicht.". Nach einer Weile verabschiedete sie sich mit einer Entschuldigung für die Störung und legte auf. Mein Herz pochte mittlerweile so stark, dass ich fürchtete gleich zu explodieren. Meine Sorgen wuchsen und wuchsen.
Mir kam der 23te Januar in den Sinn. Der Tag, an dem er es schon einmal vorhatte. Und seine Worte, "Wenn ich es noch einmal vorhabe, werde ich es dir nicht sagen, weil ich nicht will, dass es dir wieder so dreckig geht.". Ich erinnerte mich auch an meine Reaktion darauf: "Glaubst du etwa es würde besser sein, wenn du es hinterrücks tust, ohne dass du etwas sagst, und ohne, dass jemand etwas ahnt?", er erwiderte nichts darauf und schwieg lediglich.
Während ich diese Gedanken hatte, setzte ich mich wieder an den Tisch und versuchte weiterzuessen. Aber ich brachte kaum zwei Bissen zustande, welche ich hart meinen trocken gewordenen Hals hinunter zwang. Ich stand wieder auf, informierte kurz meine Mutter über die Situation und bat sie um ihr Handy, damit ich ihm eine SMS schreiben konnte, in der ich ihm mitteilte, dass seine Mutter bei mir angerufen hatte, ich mir Sorgen um ihn machen würde und ihn anflehte: "Mach keinen Scheiß!". Meine Finger zitterten, als ich die SMS schrieb und meine Sorge um ihn ist so groß geworden, dass sich bereits Tränen bemerkbar machten.
Ich fasste den Entschluss unbedingt zu ihm zu fahren. Da ich möglichst schnell dort sein wollte bat ich meine Mutter mich zu bringen. Sie hatte mir die Nervosität und Sorge wohl angesehen. Während sie sich noch fertig machte, nahm die Sorge überhand und ich gestand ihr mit einem Tränenausbruch, dass Eduard schon einmal versucht hatte sich umzubringen. Sie war schockiert, aber bewahrte Fassung, blieb stark. Sie sagte etwas, was ich nicht gänzlich mitbekommen hatte, da ich mit meinen Gedanken gänzlich bei Eduard war.
Wir setzten uns ins Auto und fuhren los. Ich versuchte mich zu beruhigen und die Tränen zurück zu halten.
Auf dem Weg sagte ich ihr, dass ich Angst hätte. Angst um ihn. Sie versuchte mich zu beruhigen. Ich ahnte Böses, befürchtete das Schlimmste.
Ohne wirklich auf meine Mutter zu warten, stürmte ich aus dem Auto, als wir angekommen waren und eilte zur Wohnungstür Eduards, wo ich - bevor ich klingelte - mich noch einmal kräftig zusammenriss, um nicht angeschlagener zu wirken, als die Situation hätte sein können.
Der Mutter war eine gewisse Überraschung ins Gesicht geschrieben, doch sie ließ uns herein. Ich sah, wie die Großeltern Eduards in der Küche saßen und seine Mutter gab mir zu verstehen, ich solle ruhig bleiben, um die Großeltern nicht zu beunruhigen.
Rasch ging ich wenige Schritte zu Eduards Tür, wo ich zunächst anklopfte und sie dann die Klinke hinunter drückte, um die Tür zu öffnen. Doch es gab einen Widerstand. Sie war verschlossen. Seine Mutter kam hinter mir hervor und versuchte mit einem Ersatzschlüssel die Tür zu öffnen. Aber auch das funktionierte nicht, da der andere Schlüssel, oder irgendetwas anderes, von der anderen Seite im Schloss steckte und ein Öffnen unmöglich machte.
Also klopfte ich lauter und versuchte ein zwei mal ihn anzusprechen, währenddessen ist seine Mutter mit meiner Mutter irgendwo anders in die Wohnung gegangen. Bald danach drohte ich: "Wenn du in dreißig Sekunden nicht aufmachst rufe ich die Polizei und Feuerwehr an!" und zählte daraufhin die Sekunden hinunter. Exakt zur dreißigsten Sekunde klopfte ich noch einmal und sagte: "Eduard, ich hoffe du hörst mich, denn ich werde jetzt die Feuerwehr anrufen!". Ich hielt einen Moment inne und hoffte auf ein Lebenszeichen. Danach eilte ich in das Wohnzimmer, wo unsere Mütter auf dem Sofa saßen und miteinander redeten.
Mir quillten die Tränen hervor als ich sagte: "Sofort die Feuerwehr anrufen und einen Krankenwagen anfordern!" und rannte danach zurück zu Eduards Tür, wo ich erneut vergeblich versuchte ihn anzusprechen. Mir schmerzte der Hals und die Tränen konnte ich nicht mehr zurückhalten. Doch das war mir in dem Moment egal.
Seine Mutter kam einige Sekunden später mit einem Telefon in der Hand zu mir und sagte ich solle anrufen. An die Begründung dafür, kann ich mich nicht mehr erinnern, ich war in dem Moment ziemlich in Panik geraten, mein Herz raste, meine Gliedmaßen zitterten. Ich hatte Angst.
Angst, wie noch nie zuvor in meinem gesamten Leben...
Ich griff ohne Weiteres zum Telefon, wählte intuitiv "112" und rief an. Nicht einmal fünf Sekunden später erklang eine junge Männerstimme am anderen Ende und erkundigte sich, was los sei.
Ich erinnere mich nicht mehr an alles, dafür war ich zu sehr in Panik, aber an einige Fetzen schon. Ich nannte meinen Namen und sagte: "vermutlicher Suizidversuch", nannte die Adresse und fügte an "schicken sie einen Krankenwagen und jemanden, der eine Tür aufbrechen kann!". Er fragte nochmal nach der Adresse, und fragte nach dem genauen Ort innerhalb der Wohnung. Dann wies er mich an, dass ich auf die Rettungskräfte irgendwo warten solle. Ich teilte ihm mit, dass ich unten vor der Wohnung an der Straße warten würde." Und als alles geklärt zu sein schien, legte ich auf und rannte nach Unten, wo ich an der Straße wartete.
Nach drei, vier, oder vielleicht fünf Minuten erklangen auch schon Sirenen und Momente später sah ich einen Feuerwehr- und einen Krankenwagen einfahren. Ich winkte dem Fahrer des Feuerwehrfahrzeugs zu, damit er wusste, wo er hin musste. Sie fuhren durch die Feuerwehrzufahrt, ich eilte ihnen nach. Sie stiegen binnen Sekunden aus und sprachen mich an.
Ich war nervös, aber relativ beherrscht. Sie stellten mir diverse Fragen, fragten nach einem Zugang über Fenster, nach der Etage, dem Alter und meiner Beziehung zu Eduard, zeitgleich führte ich sie hoch in die Wohnung zu Eduards Zimmer.
Alles andere, meine Mutter, Eduards Mutter, seine Großeltern, blendete ich aus. Sie verschwanden hinter dem Sturm aus Sorgen und Aufregung, der in mir wütete.
Vor Eduards Tür blieben wir stehen. Eine Feuerwehrfrau fragte mich nach seinem Namen, klopfte an und versuchte ebenfalls ihn anzusprechen - keine Reaktion. Ich wich unterdessen in das Badezimmer aus, welches direkt neben seinem Zimmer war, da es mittlerweile bei den vielen Menschen, die anwesend waren, räumlich eng wurde.
Sie ging zurück, nuschelte irgendetwas. Wie sich herausstellte holte sie jemanden, der ein Brecheisen bei sich trug. Ich stand zitternd um meine Fassung kämpfend daneben, ich fühlte mich, als würde eine unsichtbare Hand all meine Innereien in einem eisigen harten Griff zerdrücken.
Der Feuerwehrmann setzte das Brecheisen an die Tür und brach sie eine halbe Sekunde später mit einem kräftigem Ruck auf. Man hörte das Holz für kaum eine Sekunde quetschen, brechen und splittern. Die Tür sprang auf, alles war dunkel...
Er spähte in sein Zimmer und was er dann sagte werde ich niemals vergessen können, es hat sich eingebrannt... Er sagte: "Da liegt was." und das mit einem nahezu gleichgültigen, analytischen, ruhigen Tonfall. Mein Herz raste. Es pochte extrem stark, so stark, dass mein gesamter Körper bebte. Ich fühlte mich grässlich.
Eduards Mutter stürmte daraufhin ins Zimmer. Und kaum eine Sekunde später erklangen einige sehr laute verzerrte und gequält klingende Worte. Wenn ich mich recht entsinne, wiederholte sie mehrere Male "Oh mein Gott! Oh mein Gott!". In diesem Moment war mir klar, was geschehen war. In diesem Moment erstarrte alles in mir. Mein Herz hörte auf zu schlagen. Ich hörte auf zu atmen und verlor mein Zeitgefühl. Mir war klar, was diese Worte zu bedeuten hatten. Weder in Gedanken, noch mit meiner Stimme sprach ich es jedoch wirklich aus. Es war mehr ein Gefühl, das durch die Situation hindurch mein Bewusstsein flutete und mir klar machte: "Eduard ist tot. Er ist tot!"
Immer noch war ich wie erstarrt.
Ich bemerkte nicht, wie diverse Leute, welche ich gar nicht wirklich wahrnehmen konnte, umher rannen. Was ich jedoch bemerkte war, wie jemand die Rollos des Zimmers öffnete, sodass es dort heller wurde.
Mein Kopf war ausgeschaltet. Ich war katatonisch. Fast wie in Trance bewegte ich mich ins Zimmer, beugte meinen Kopf um die Ecke, blickte zuerst aufs Bett, dann auf seinen Sessel, ehe ich dann auf dem Boden etwas sah...
Ich sah seine Beine. Gestreifte Socken, eine Jeanshose. Das war alles, was ich erkennen konnte, denn sein Oberkörper lag ebenfalls auf dem Boden, zwischen Bett und Sessel verdeckt. Und es hatte mir gereicht. Es versetzte mir einen Stoß, der mich zitternd zurückweichen ließ. Die unsichtbare kalte Hand in meinem Inneren drückte in diesem Moment am kräftigsten zu und zerquetschte somit meine Innereien. So fühlte es sich jedenfalls an. Es entstand ein grässlicher Schmerz, der sich mit keinen Worten beschreiben lässt. Und ebenso hüllte mich eine tiefe große schwarze Leere ein, die mich wie ein schwarzes Loch zu sich zog und mich mit aller Gewalt zerfetzte.
Ich war kurz davor zusammenzubrechen, sodass ich zurück ins Badezimmer ging und mich dort mit meinen Armen auf der Waschmaschine abstützte. Und dann weinte ich. Ich weinte wie noch nie in meinem Leben - unwissend, dass es mich am Tag darauf noch härter erwischen würde.
Ich konnte und wollte es nicht wahrhaben. Er war tot... tot... er hatte es getan...
An diesem Tag, in diesen Momenten, ist etwas in mir gestorben. Etwas, das vorher so unberührt, rein, friedlich und fröhlich war. Es wurde gepackt und mir herausgerissen. Und dann wurde es grausam zerstört. Noch nie habe ich so etwas zuvor in meinem Leben empfunden.
Eduard starb... und mit ihm ein wichtiger Teil von mir...
Seitdem kann ich nicht mehr ernsthaft lächeln. Nur noch halbherzig - wenn überhaupt - so etwas wie "Freude" empfinden. Seitdem scheint mich dieses Loch, das in mich gerissen wurde, innerlich aufzufressen. Und an jenem Tag begann es.
Was dann noch geschah, weiß ich nicht mehr genau. Danach zog alles so schnell an mir vorüber. Ich erinnere mich kaum noch an alle Details.
Ich weiß noch, wie ich ins Wohnzimmer gebracht wurde, wo viele Leute waren. Unter anderem Eduards Mutter, seine Großeltern, meine Mutter und einige Rettungskräfte.
Ich setzte mich und weinte. Irgendein Arzt kam, stellte irgendwelche Fragen, ich weiß nicht mehr welche. Er wirkte ernst.
Die Polizei kam, und dann die Kripo. Sie nahmen unter anderem meine Personalien auf.
Mir wurde schlecht. Ich fühlte mich schwach, zerbrochen. Meine Mutter brachte mir ein Glas Mineralwasser, und danach setzte ich mich in die Küche, weil jemand von der Kripo mit mir reden wollte. Auch er stellte irgendwelche Fragen. Mein Bewusstsein teilte sich dort in zwei Ebenen. Die eine Ebene, welche sich tief in meinem zerstörten Inneren verkroch und versuchte die klaffende Wunde zu flicken, und die andere Ebene, die unbewusst, aber präzise auf fast alles einging, was der Kripobeamte gefragt hatte. Ich war katatonisch. Fühlte zeitweise absolut nichts. Die Realität verschwand im Hintergrund der gewaltigen inneren Leere, und des Sturms aus Gedanken, die durch mein Gehirn rasten.
Dann wurde ich zum Krankenwagen gebracht, bekam eine Infusion, die meinen Kreislauf stabilisieren sollte, und wurde in ein naheliegendes Krankenhaus gefahren, wo ein Psychiater mit mir redete. Ich bekam mit, wie auch Eduards Mutter dort hin gebracht wurde, und irgendwann saßen wir nebeneinander auf der Liege und ließen uns vom Psychiater irgendwelche Dinge erzählen. Wir redeten mit ihm, aber ich weiß kaum noch worüber.
Denn alles, woran ich dachte, war Eduard und der Anblick, den ich als letztes von ihm hatte. Ich dachte an ihn und unsere gemeinsame Zeit. Und ich weinte und schien nicht damit aufhören zu können.
Irgendwann entließ uns der Psychiater und ich bemerkte, dass es Draußen dunkel geworden war. Ein Blick auf die Uhr verriet mir eine Zeit von etwa 22 Uhr abends. Es überraschte mich. Denn es kam mir nicht wie Stunden, sondern wie Minuten vor.
Meine Mutter holte uns ab, brachte Eduards Mutter nach Hause und fuhr uns dann zu unserem Daheim, wo ich mich erschöpft in mein Bett fallen ließ, mir mein Headset aufsetzte und nur noch Musik hörte, so laut es ging. Und ich weinte. Ich weinte, weil es schmerzte und immer noch schmerzt, dass Eduard mich und die anderen verlassen hatte...
Der Schock war es, der mich immer noch nicht wirklich begreifen ließ, dass er tatsächlich fort war, aber zuließ, dass ich Schmerz empfand. Der Schock war es, der mich in einen Zustand versetzte, der mir enorm meine Kräfte raubte und mich dazu brachte Stunden wie Minuten zu empfinden. Der Schock war es, der diesen Tag für mich, meine Eltern, und vor Allem auch für Eduards Familie, zeichnete.
Alsbald sich der Schock jedoch gelegt hatte und ich am nächsten Tag der grausamen Realität ins Auge blickte, bemerkte ich erst, dass diese Welt für mich unterging und das Schmerzen verursachte, die jedwede vergleichbaren physischen und psychischen Empfindungen, die ich davor hatte, um ein unbeschreiblich großes Vielfaches extrem übertrafen, selbst die vom Vortag, und mich somit in eine düstere Welt führten, in der nicht das Licht und nicht der Frohsinn vorherrschte, sondern die Qual, die Trauer und eine unendliche, bodenlose tiefe Schwärze.
Die Welt ging an diesen Tagen für mich unter und die Qual zeichnete mich. Nichts wird jemals wieder so sein, wie es vorher war. Es ist geworden, wie es niemals war. Für mich ist die Endzeit angebrochen. Das Ende war da...
by
Lupus Terre
Lupus Terre
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