Freitag, 11. Mai 2012

Zwielichtregen


„Es regnet“, sagte sie.
„Ich weiß“, sagte er.
„Warum öffnest du nicht deinen Regenschirm?“, fragte sie.
„Es regnet nicht stark genug.“, antwortete er.
Was ist starker Regen?, fragte sie sich in Gedanken. Denn es regnete stark genug, dass sie vollkommen durchnässt war.
Dicke lang gezogene Tropfen rasten hinunter auf den Boden, wo sie zerschellten. Der Himmel war Grau bewölkt, das Licht sehr gedämmt. Es war nicht Hell und nicht Dunkel. Weder Tag, noch Nacht. Ein Zwielicht war es, dass die Umgebung in ein halbdunkles halbhelles Licht tauchte. Grau war der Asphalt unter ihren Füßen. Grau die Straßen für Fußgänger. Grau die Fassaden der Gebäude. So grau und monoton wie die Wolken im Himmel, welche kalten nassen Regen weinten. Ein Kontrast waren die Bäume und Wiesen, die Blumen und Blüten, welche stellenweise aus dem Grau hervorstachen. Doch auch sie in ein Halbdunkel Halbhell getaucht. Auch sie eingegraut.
„Was ist starker Regen?“, fragte sie.
„Meine Kleidung ist durchnässt. Meine Haare sind durchnässt. Was ist für dich starker Regen? Warum öffnest du nicht deinen Schirm?“, sagte sie.
„Weil ich es nicht will.“, antwortete er.
„Weil der Regen das Einzige ist.“, sagte er.
„Das Einzige?“, fragte sie und er antwortete: „Das Einzige, das mich wäscht, mich von meiner Qual befreien vermag.“
„Wie?“, fragte sie und er antwortete: „Der kalte Regen kühlt mein Gemüt. Der kalte Regen löscht mein Feuer. Der kalte Regen reinigt mein Sein.“
„Aber ich will nicht nass sein. Gib mir deinen Schirm!“, sagte sie.
„Nein!“, brüllte er.
Verängstigt reagierte sie: „Wieso?“
„Du bist meine Qual.“, gab er kühl zurück und begann zu reden:
„Über diese Monotonie dieser jämmerlichen Existenz kannst nur du hinwegtäuschen. Du gibst mir ein Gefühl, gar wunderbar ist es, und es hebt mich hoch hinaus in die Lüfte, zur Sonne nahe, welche mich wärmt und mich belebt. Doch es ist nur eine List, nur eine schlechte Farce, ein impertinentes Spiel des wahren Lebens. Denn diese Illusion, in der du mich wiegst, dieses Gefühl, mit dem du mich zu betrügen wagst, reißt mir die Haut vom Leibe, damit die Säuren der Realität mich verätzen können. Nicht du sollst auch noch wagen mich anzugreifen. Denn wenn ich zu deinem ästhetischem Anblick aufsehe und mich von deiner Güte verführen lasse, schleichen sich Schatten in meinen Geiste. Ungetüme, die mir aufzeigen, dass in dieser verdorbenen Welt, in diesem morbiden Konstrukt menschlicher Naivität, menschlicher Abgründe, menschlicher Ungeheuerlichkeit, nichts einen Wert hat. Und damit hacken sie auf der Ader meines Herzens herum, nur um mich besser quälen zu können. Du gehörst zum Teil dieses Plans. Ich weiß, dass nichts auf dieser Welt eine Rettung zustande kommen lassen vermag. Ich weiß, dass nichts auf dieser Welt noch erstrebenswerten Lebensinhalt hat. Ich weiß, dass nicht du eine Änderung bezwecken wirst, sondern nur noch mehr Leid. Auch wenn ich im Nu dahinvegetiere, bis ich verderbe und verrotte, so will ich mich doch wenigstens dagegen wehren. Gegen dich.“
Er wandte sich ihr zu und erhob seinen Schirm. Dann schlug er zu. Er schlug zu. Er schlug erneut zu. Mit Wucht traf er sie am Kopf, am Hals. Sie fiel zu Boden und schrie auf. Ihre Stimme, welche rein und süß klang, wie lasterloses Harfenspiel, wurde gebrochen, klirrte in den Raum.
Er erhob sich über ihr und hielt seinen Schirm, mit der stählernen Spitze nach unten gerichtet über ihr und sagte: „Ich befreie mich!“
Sie wusste nicht, ob es Regen war, oder echte Tränen, die sie in seinem verbittertem Gesicht zu sehen glaubte. Doch sie wusste, was auch immer er tat, sie würde ihn immer lieben. So schloss sie ihre kristallklaren blauen Augen und ließ los.
Er stach mit Wucht in ihr Herz hinein und durchbohrte es.
Sie schrie nicht mehr. Sie schrie nie wieder.
„Dein Blut.“, sagte er und redete weiter: „Dein tiefes rotes Blut wird mein Heil sein. Auch wenn ich in dieser Sekunde dein warmes Gesicht noch verschlingen möchte, und mir dich schon jetzt sehnlich zurückwünsche, so darf ich mich nie mehr von deinem rotem Haar und deinen roten Lippen, die den Duft und die Farbe eines reifen, frischen, prall gewachsenen Apfels tragen, verführen lassen. Auch wenn dieser Glanz, das einzige sein mag, welches dieses Grau durchbricht, diese Düsternis lichten könne. Das Einzige, das so stark wie die Sonne erstrahlt.“
Es wurde Dunkel. Das Zwielicht ward zum Dunkel verkommen und er verschmolz mit dieser. Nur ihr Blut leuchtete noch auf. Aber er hatte sie vernichtet, er konnte nicht anders. Er war ihr Gegenwesen. Sein Schmerz wurde Dunkelheit. Dunkelheit war sein Schmerz. Er ist letztlich die Dunkelheit geworden, denn sein Licht verstarb.
Es hörte auf zu Regnen.


by Lupus Terre (DLNT)


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