An die Zeit gedacht
Ich kam in den Raum. Ich kam in den großen weißen Raum. Ich erkannte das trübe Gesicht meines Lehrers.
Eine große Leere. Ein Blick auf die Uhr. Viertel vor Neun. Ich schaff das. Ich bin früh dran. Ich habe genug Zeit.
Die Stühle standen oben. Nur mein Lehrer war außer mir im Raum. Die grüne Tafel hinter ihm an der Wand.
So ruhig, so friedlich. Als ob die Zeit still stünde.
„Setz dich doch!“, sagte er. Also ging ich nach ganz vorn, wo sich sonst niemand hinsetzt. Dort würde ich meine Ruhe haben. Dort könnte ich mich konzentrieren, isolieren von der Unruhe, dem Gehampel und dem zuflüstern.
So saß ich da. Ich schaffe das! Ich schaffe das! Ich schaffe das!
Ein erneuter Blick auf die Uhr. Acht Minuten bis es beginnen würde. Acht Minuten. Eine Unendlichkeit, wenn ich es richtig mache.
Die Anderen kamen nach und nach. Immer mehr. Immer lauter. Ein buntes Getummel mit lautem Gezwitscher. Mein Lehrer unbeeindruckt dort vorne am Pult stehend und irgendwelche Papiere durchgehend.
Zwei Minuten vor Neun. Er bat die Anderen um Ruhe und begann die Zettel auszuteilen.
Einfache Papiere, einfache, leblose, unreale dünne Dinge, die über meine Zukunft entschieden.
Ich darf es nicht verhauen. Nicht wieder!
Meine Hände klebten. Genässt von dem Schweiß. Genässt durch den Anblick der blanken Papiere vor mir auf meinem einsamen Tisch ganz vorne.
Der Lehrer sah auf seine Uhr. Dann sagte er: „Fangt an! Ich wünsche euch viel Glück!“.
Noch einmal ein kurzer Schwall von Geräuschen. Dann wieder Ruhe. Eine einsame, angenehme, aber gefährliche Ruhe.
Ich drehte das Papier um. Es klebte an meiner Hand. Wollte sich nicht loslösen. Wie ein Parasit, der mich mein gesamtes Leben verfolgt und sich niemals loslöst.
Er fiel dahin. Sank auf den Tisch hinab. Wollte er sich verabschieden? Verabschieden vom Versager? Und einen besseren Wirt suchen?
Ich ließ ihn nicht gehen. Sofort jagte ich hinterher.
Von diesem Papier hängt meine Zukunft ab. Meine Lebenszeit. Mit Glück hatte das nichts zu tun. Ich selbst, bin mein Glück, wenn ich es schaffe.
Viertel nach Neun. Verflucht! Schon wieder in Gedanken versunken. Nicht mehr viel Zeit. Ich muss es einfach schaffen.
Ich schaffe das! Ich schaffe das! Ich schaffe das!
Ich starrte auf das Papier. Hoffte dieses Durcheinander von Buchstaben würde mir etwas mitteilen. Doch ich wusste es teilt sich nicht mit. Ich muss die Botschaft heraus holen.
20 Minuten nach Neun. Und der Sekundenzeiger schritt weiter. Verdammt noch mal! Ich schaffe das nicht. Ich muss die Zeit nutzen!
Wo ist der zeitlose Moment hin?
Ich fuhr fort. Hoffte etwas verstanden zu haben. Dann blickte ich auf das blanke Papier, welches mit Linien versehen war, die wohl kein Ende nehmen wollten. Gewaltsam wurden sie abgetrennt. Ein Opfer des Papiers, wie ich.
Ich schaffe das! Ich muss mich beeilen, doch ich werde das schaffen. Ich werde mit der Zeit zurecht kommen!
Eine große Stille im Raum, wie in meinen Gedanken. Sie sagten nichts. Niemand. Ich bin derjenige, der handeln muss, ich bin der, der die Zeit nutzen muss. Sie wird nicht immer still stehen für mich.
Wie die Stille der Gedanken, wie das ausdruckslose Gesicht meines Lehrers, so leer war das Papier vor mir.
Es hatte sich verabschiedet, ich muss hinterher eilen.
Ich schaffe das! Ich schaffe das! Ich schaffe das! Ich komme mit der Zeit zurecht, nicht, wie früher!
Ein kurzer Blick auf die schwarz-weiße Uhr an der Wand. Zehn vor Zehn. Verdammt! Die Zeit, mein Feind, kennt meine Schwächen.
Noch zehn elende Minuten und ein leerer Bogen Papier.
Ich schaffe das! Na los, denke! Denke! Denke!
Ich zittere, Schweiß füllt statt Tinte das Papier.
Los! Ich kann das! Ich schaffe das! Ich komme mit der Zeit zurecht!
Plötzlich entreißen sich mir die Papiere. Ich blicke auf. Wenige Minuten nach Zehn. Mein Lehrer vor mir, mit dem ausdruckslosem Gesicht. Der Raum wieder leer. Nur ich und mein Lehrer sind im Raum.
So emotionsleer das Gesicht meines Lehrers, so leer der Raum, so leer von Farbe die Wände und die verfluchte Uhr, so leer ist das Papier.
Der Parasit hatte sich mir entrissen.
Ich habe es nicht geschafft. Ich habe wieder zu viel erwartet, als gegeben. Ich bin verloren in der Zeitlosigkeit. Dennoch, die Uhr tickt weiter.
By Lupus Terre (DLNT)
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