Sonntag, 17. Mai 2015

Unvergessen


Ich werde es nicht vergessen,
dein Gesicht und deine Taten
Und ich werde nicht vergessen,
was du mir alles gabst

Ob schwarze Wolken den Himmel verdecken,
oder die Sonne den Tag verkleidet
Irgendwo wird sich immer dein Bild
in den Schatten verstecken

Ich werde es nicht vergessen,
deinen Duft und deine Farben
Und ich werde nicht vergessen,
wie du mir alles nahmst

Du schenktest mir Freude
und am Ende Trauer
Zeigtest mir das Feuer
und hast mich verbrannt

Doch ich werde nicht vergessen,
wie wir zusammen lachten
Und ich werde nicht vergessen,
wie wir die Welt betrachten

Egal, wo ich mich auch befinde
Ich spüre deine Gegenwart tief in mir
Ob beim Klang des Klaviers,
oder beim Gang durch Städe

Doch ich werde nicht vergessen,
wie du mich verlassen hast
Und ich werde nicht vergessen,
wie du mich betrogen hast

Es gibt Tage, trocken, trüb und ohne Sinn
an denen ich vergesse, wer ich bin
Dann gibt es Nächte, nass, schwarz und dennoch klar
in denen ich vergesse, wer ich war

Stehe ich wieder an jener Brücke,
an der wir uns einst trafen,
und blicke ich in das Schwarz hinein,
so will ich springen, doch ich kann nicht

Stattdessen suhle ich mich im Dreck
Füttere meine Wunden mit alten Wünschen
Sehne mich fort - will einfach weg
Will vergessen, will nicht mehr wissen

Doch meine Gedanken explodieren,
rasen, jagen, stürzen, kriechen,
und steigen letztlich wieder auf
Nur, um mich mit Schuld zu beladen
mit meinem Versagen
mit deinem Betrug
Nur, um wieder daran zu denken,
was ich versäumt habe
was du verbrochen hast
Nur, um mich wieder zu quälen
mit den Momenten, in denen ich dich verlor
mit den Momenten, in denen du mich aufgabst

Und ich versuche
Und ich kämpfe
Und ich mache einfach stur weiter
Als hätt's dich nie gegeben
Als hätt' ich nichts verloren
Doch die Wahrheit ist,
ich kann das schon längst nicht mehr

Kann kaum klar denken,
mich nicht ablenken
Kann es noch immer nicht fassen
fange an mich selbst zu hassen
Kann nicht mehr
Will nicht mehr
Es hat kein Ende

Ich ertrinke in der Flut der Erinnerung
Hänge am Galgen der Vergangenheit
Sieche ohne Grund zu leben vor mich hin
Werde zur Beute meiner Selbst

Ich versuche alleine diese Last zu stemmen,
doch es ist als würden kalte, scharfe Klauen
mich von innen zerreissen
und alles, was mich ausmacht, zerfetzen

Ich versuche die Fassung zu wahren
Mühsam ein Loch nach dem anderen zu stopfen
Doch irgendwo brechen wieder Narben
Und mein Geist löst sich in ihnen auf

Doch ich werde nicht vergessen,
wie wir einst die Tage bestritten
Und ich werde nicht vergessen,
wie wir gemeinsam litten

Ich werde nicht vergessen,
was du mich alles lehrtest
Und ich werde nicht vergessen,
wie du dann plötzlich von uns gingst

Ich werde dich nicht vergessen
Ich werde es nie vergessen
Ich werde nicht vergessen
All das bleibt stetig fort nur eines:
Unvergessen.



~ Lupus Terre



Freitag, 8. Mai 2015

Der Namenlose III ~ Die Körperlose

Kein Licht kann ich erblicken. Keinen Laut kann ich erhöhren. Alles, was ich wahrzunehmen vermag, ist der Kopf, den ich in meinen zitternden Händen halte, sowie die eisige Kälte und ein nach und nach intensiver werdender Gestank von faulendem Fleisch. Es graut mich auch nur daran zu denken woher er stammt. Doch ich kann nicht verleugnen, was ich vor wenigen Momenten noch erlebt habe.
Die fallenden Köpfe. All die gequälten Seelen, die um ihr Erbarmen winselten, deren Geschrei meinen Geist zerrütteten. Sie alle liegen zu Schichten angehäuft vor meinen Füßen. Und einen dieser Köpfe halte ich sogar in meinen Händen.
Ihr Fleisch ist kalt, nicht aber so kalt wie die Luft in dieser endlosen Dunkelheit. Und ihre Haut fühlt sich kühl und hart an. Ich möchte nicht daran denken, dass dieser Schädel losgelöst von seinem Körper ist. Was soll ich tun? Was soll ich bloß tun? Was ist das für eine verzerrte Realität? Was ist das für ein Alptraum, aus dem es kein Erwachen gibt?
Der Kopf. Ich halte den Kopf eines Menschen in meinen Händen. Den Kopf eines toten Menschen! Eine junge Frau. Ich kann den Anblick nicht vergessen. Ihre Augen und ihr Mund waren mit einer Art Stacheldraht zugenäht. Verkrustetes Blut sprenkelte ihre Wunden.
Was soll das? Warum bin ich hier?
Ich wage es nicht mich zu bewegen. Ich will mich nicht bewegen. Zu groß ist meine Furcht davor durch das Meer aus Köpfen zu schreiten. Zu groß meine Furcht davor, was als nächstes geschehen könnte. Verflucht! Wieso bin ich hier?
Plötzlich werde ich von rotem Licht eingehüllt. Es blendet erst meine Augen, doch sie gewöhnen sich schnell daran. Es ist nicht sehr hell, doch blutrot. So rot wie das Blut all derer, die vom Himmel fielen. Als ich meine Augen öffne, fällt mein Blick in die Finsternis. Das rote Licht scheint nur in einem kleinen kreisförmigen Bereich um mich herum zu strahlen und hat keine erkennbare Quelle. Es ist nicht breitflächig genug, um etwas, das sich auch nur fünf Schritte von mir weg befindet, zu erkennen, jedoch genug, um all die Köpfe in meiner unmittelbaren Nähe zu sehen. Nicht zuletzt denjenigen, den ich in meinen Händen halte.
Ich frage mich, welcher Schrecken mich nun erfahren wird und richte meinen Blick hinunter zur jungen Frau.
Das dunkle, rote Licht lässt die Blutflecken in ihrem so jugendlichen Gesicht unsichtbar wirken. Ein geringer Trost, wenn ich bedenke, welche Qualen ihr widerfahren sein müssen, als ihr diese Drähte durch die Haut gezogen worden sind. Werde ich ebenfalls so enden?
Was hat der Dämon mit mir vor? Wieso hat er mich in diese Hölle verbannt?
Ich werde wohl niemals die Antworten auf meine Fragen erhalten, also bleibt mir nicht mehr übrig, als mich auf jene Dinge zu konzentrieren, auf die ich vielleicht Einfluss ausüben kann.
Also untersuche ich, immer noch zitternd, den Kopf genauer.
Abgesehen von den grotesken Qualen, die man ihr antat, kann ich jedoch nichts erkennen, was mich auch nur irgendwie weiter brächte. Kurze schwarze Haare, ein jugendliches Gesicht, verkrustetes Blut an dem Stumpf, der einst ihr Hals zu sein pflegte. Und diese Drähte, die aus dünnen schwarzen, metallischen Fasern beschaffen sind, von welchen zahlreiche kleine Stacheln abstehen.
Wieder blitzt eine Frage durch meinen Geist. Wird mir das selbe widerfahren? Ist es das, was der Dämon mit mir vorhat? Will er mich erst durch den größten Schrecken meines Lebens jagen, um mir dann zuletzt physische Qualen zu bescheren, sodass ich ein Teil jener Köpfe werde, die irgendwann auf jemand anderen herunterregnen? Er sagte, er wolle meinen Tod. Will er es auf diese Weise erreichen?
Der Gedanke, aus dieser Hölle nie wieder fliehen zu können, lässt mich erschaudern. Gibt es denn kein Entkommen?
Ich nehme all meinen Mut zusammen und schreie verzweifelt in die Finsternis hinaus:
"Wenn du meinen Tod willst, wieso bringst du es dann nicht sofort zuende?"
Doch keine Antwort erlöst mich. Ist dies ein Racheakt? Rache wofür? Was habe ich bloß verbrochen?
Ich senke meinen Blick. Meine Augen richten sich auf das Gesicht der bemitleidenswerten Frau, deren Kopf ich immer noch in den Händen halte.
Ich versuche mir auszumalen, was sie für ein Mensch gewesen sein könnte, wie wohl ihr Name war, wo sie lebte und was sie bisher in ihrem Leben durchgemacht hatte. Meine rechte Hand fährt ihr durchs Haar. Wenngleich ihr Schicksal grausam ist und ihre Überreste grotesk misshandelt worden sind, vermag ich einen gewissen Glanz in ihrem Antlitz zu erkennen. Stellt man sich vor, wie sie ohne diese Verunstaltungen ausgesehen haben muss, so kommt man zu dem Schluss, dass sie wunderschön gewesen ist. Prachtvolles, langes, schwarzes Haar. Ihre Haut sanft und sonnengefärbt. Bloß die Farben ihrer Augen kann ich mir nicht vorstellen. Sie war sicherlich eine gute Seele. Ich bemerkte keine Spuren der Verwesung. Sie war wie eingefroren.
Mein Blick festigt sich an den Lidern ihrer Augen.
Als ich überlegte, ob ich nicht aufstehen und doch wieder versuchen sollte einen Ausweg aus diesem Alptraum zu finden, bewegten sich ihre Augen unter den Lidern auf ein mal hastig. So, als würden sie panisch versuchen etwas zu sehen.
Ich schrecke zurück, mein Atem setzt aus. Wie ist das möglich?
Nun gab sie auch noch Laute von sich. Als würde sie durch den zugenähten Mund zu sprechen versuchen. Es ist jedoch durch und durch nur ein Genuschel, vollkommen unverständlich.
Scheinbar begreift die junge Frau, was mit ihr geschehen ist und sie fängt an Laute von sich zu geben, die einem Wimmern gleich kommen.
Was soll ich bloß tun? Wenn ich sie doch irgendwie von diesen Drähten befreien könnte! Aber ich sehe keinen Weg, der dies schmerzfrei bewerkstelligen könnte. Dafür würde ich Werkzeug benötigen.
Aus dem Wimmern wurde rasch ein schmerzerfülltes Schreien, als sich ihre Lippen im selben Moment stärker zu bewegen begannen.
Offenbar versucht sie ihren Mund zu öffnen. Sie widersetzt sich den Schmerzen und reißt ihr Fleisch durch die schwarzen dornigen Drähte hindurch! Das Blut quillt an ihren Wunden hervor, wieso lässt sie es nicht sein?
Und sie schreit mit jedem Stück, das sie sich befreien kann, lauter.
Der Irrsinn dieser Szenerie überfordert mich. Instinktiv lasse ich ihren Kopf fallen, als wäre es etwas gefährliches und halte inne. In der Furcht, es wird etwas schreckliches folgen, beginnt mein Herz zu rasen. Wenn ich doch wüsste, was ich tun kann!
Sie hat es geschafft ihre Lippen den Drähten gewaltsam zu entreißen. Sie schreit qualvoll. Ich will ihr helfen, aber was soll ich tun? Was soll ich denn nur tun?
Während ich in meiner Ahnungslosigkeit verzweifle, scheint sie auch ihre Augen befreien zu wollen. Doch zu schwach sind ihre Lider, als dass sie den stählernen Fesseln entkommen könnten.
Ihre Pein sprengt die Ausmaße meines Vorstellungsvermögens, was sie doch durchleiden muss!
Das Geschrei lässt nach, stattdessen stolpern stotternd Wortfragmente aus ihrem zerschlissenen Mund.
"Hilf", sie pausiert, es kostet sie große Anstrengung, dann fährt sie fort, "... mir!".
In der Hoffnung, dass es dem gequälten Wesen helfen würde, nehme ich meinen Mut zusammen, um ihren Kopf wieder vom rot erleuchteten Boden aufzuheben.
Ein starkes Zittern liegt in meiner Stimme, als ich frage: "Wie? Wie kann ich helfen?"
Erneut versucht sie mir angestrengt etwas mitzuteilen: "Gib... mir...", sie pausiert, doch beendet ihren Satz nicht. Ich frage: "Was? Was soll ich dir geben?"
Als wäre es der letzte Atemzug, den sie machen konnte, zwingt sie weitere Worte hinaus: "... meinen Körper."
Danach erschlaffen ihre Lippen, ihre Augen zeugen nicht mehr von Bewegung.
In der Hoffnung, dass sie mich dennoch irgendwie höhren kann, erbitte ich eine Antwort: "Wie? Wie soll ich dir deinen Körper geben?"
Doch sie schweigt, scheint tot zu sein, wieder.
Vielleicht ist dies ein Rätsel. Ein makaberes, grausames Rätsel. Der Dämon stellt mich offenbar auf die Probe. Vom Himmel sind lediglich Köpfe herabgeregnet, keine Körper, oder etwa doch? In dieser Masse und inmitten des Horrors muss ich meine Wahrnehmung anzweifeln. Mir ist vielleicht etwas entgangen. Vielleicht gibt es Hoffnung für mich und ich kann fliehen, wenn ich dieses Rätsel lösen kann.
Ich höre etwas. Eine Folge von Geräuschen, langsam, aber allmählich deutlicher werdend. Es ist mir vorher nicht bewusst gewesen, doch es war da, seit die Frau ihr letztes Wort veräußerte. Es war lediglich leiser, kaum hörbar.
Diese Geräusche ähnelten, als würden kleine, nasse Säcke aneinander vorbeigeschoben werden. Als ich diese Ähnlichkeit auf meine Situation übertrage, wird mir klar: es sind die Köpfe!
Jemand, oder etwas, scheint sich offenbar durch diesen Teppich lebloser menschlicher Köpfe hindurch zu bewegen.
Geduldig warte ich auf meinem Platz, erwarte die nächste Tortur, die der Dämon sich für mich erdachte.
Dann endlich sehe ich ihn.
Ihren Körper.



by
Lupus Terre